Worum geht’s?
- Die besonders begeisterten Fans des französischen Fußballvereins Olympique Marseille gelten als Pioniere der Ultra-Kultur in Europa.
- Seit jeher positionieren sie sich auch antirassistisch.
- Diese Haltung wird zunehmend wichtiger, aber auch brisanter, weil der rechte Front National in der Region um Marseille und in der Stadt selbst immer mehr Stimmen gewinnt.
- Zuweilen schlagen die Ultras dabei über die Stränge. Immer wieder muss der Verein Strafen zahlen oder Heimspiele ohne Besucher ausgetragen.
Von Albert Camus, Teilzeit-Torwart und Vollzeit-Philosoph, ist ein kluger Satz überliefert: „Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen.“
Zum Beispiel an der Kreuzung Rue Negresko und Boulevard Michelet, unweit des Stade Vélodrome, jenes wellenförmigen Ungetüms von einem Stadion, in dem der Traditionsverein Olympique Marseille seine Heimspiele austrägt. Am Bohei eines Fußballspiels wie jenem zwischen Marseille und Paris Saint Germain hätte Monsieur Camus sicher große Freude gehabt. Als Liebhaber dieses Sports. Noch mehr aber als Entdeckungsreisender des zuweilen schwierigen gesellschaftlichen Miteinanders.
Drei Stunden vor dem Anpfiff vernebeln bengalische Feuer und Rauchtöpfe die breite Treppe vor dem Haupteingang des Stade Vélodrome. Die Luft schmeckt nach dem Tränengas, das die schwer gepanzerte Polizei vorhin über den Boulevard Michelet verteilt hat.
Der Journalist und Filmemacher Gilles Rof sitzt auf einem Mauervorsprung und spricht über die besondere Rolle, die Marseille und seine Fans im fragilen sozialpolitischen Gefüge Frankreichs einnehmen. Rof kann seine Worte sorgsam abwägen, alle 20 Sekunden attackieren gewaltige Böllerexplosionen die Gehörgänge. „Marseille“, sagt Rof, „ist eine Stadt voller Probleme.“
So multikulturell wie Marseille ist keine andere Stadt in Frankreich. Trotzdem hat der ultrarechte Front National in der Region großen Erfolg
Damit meint Rof nicht die vermutlich immense Luftverschmutzung, die vom stundenlangen Geböller und Gebrenne ausgeht, sondern die „hohe Kriminalitätsrate“, ein „gewaltiges Drogenproblem“, „soziale Ungerechtigkeit“ und, ja, auch den Rassismus, „der hier Alltag ist“.
So multikulturell wie Marseille ist keine andere Stadt in Frankreich. In der Hafenstadt wird die Welt klein, mehrere Generationen von Migranten aus Nordafrika, Italien, Spanien und dem Rest der Welt sorgen für die bunteste Metropole Frankreichs.
Seit kurzem umfasst die Farbpalette auch ein intensives Braun: Die Ghettoisierung führt auch in Marseille zu sozialer Abgrenzung, zu einer allgemeinen Unzufriedenheit, die sich nicht selten in Gewalt äußert, und im Erstarken der Rechtspopulisten. In Stéphane Ravier stellt der ultrarechte Front National seit 2014 einen eigenen Stadtteil-Bürgermeister. Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National, holte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 in der Provence-Alpes-Côte d’Azur, dem Gebiet um die Hauptstadt Marseille, über 20 Prozent der Wählerstimmen. Nur in zwei anderen Regionen des Landes war sie erfolgreicher.
1984 verbreiteten Fans aus Marseille die anti-rassistische Ultra-Bewegung erstmals außerhalb Italiens
Zum Paradox dieser Gegenwart gehört, dass Marseille als Initiationsort der anti-rassistischen Ultra-Kultur in Europa gilt. Auch die deutsche Ultra-Szene nimmt sich Olympiques Fans zum Vorbild, etwa beim FC St. Pauli in Marseilles Partnerstadt Hamburg oder in der links-alternativen Kurve von Werder Bremen. Es waren Fans aus Marseille, die die anti-rassistische Ultra-Bewegung erstmals außerhalb Italiens verbreiteten. Das war 1984.
Heute organisieren sich Tausende in den fünf großen Ultra-Gruppen Marseilles. Sie spielen für Stadt und Verein eine so zentrale Rolle, dass der stets oben ohne anheizende Vorsänger Depé, bürgerlich Patrice De Peretti, ganz besonders verabschiedet wurde, nachdem er 2000 an einem Aneurysma verstorben war: Für eine Schweigeminute bildete die komplette Mannschaft Marseilles einen Halbkreis, oberkörperfrei.
Wen hätten die Olympique-Ultras je so nah an sich herangelassen, wenn nicht einen der ihren? Der Fotograf Lionel Briot wurde in Marseille geboren und stand schon als kleiner Junge im Stade Vélodrome. Diese Bilder Briots entstanden zwischen 1996 und 2000, hier berichtet Briot, wie es in der rauen Kurve zuging.
Ultras sind in Marseille keine hermetische Minderheit. In den Fanshops können Besucher T-Shirts mit ihren Logos und Slogans kaufen, der Name eines Vorsängers wie Depé ist stadtbekannt. Die Ultras stehen für Marseille, sie versammeln sämtliche Ethnien, Religionen und gesellschaftlichen Schichten der Stadt. Einer der Slogans der Kurve lautet: „Nous sommes Marseille.“
Wir sind Marseille. Wir, aber nicht ihr. Nicht ihr, die den Front National wählt. Nicht ihr, die ihr Maghrebiner gar nicht erst zu Vorstellungsgesprächen einladet. Oder um es mit einem der Ultras zu sagen, der am Boulevard Michelet auch gegen die Pariser anschreit: „Zu Olympique gehen auch Rechte. Aber sie halten sich bedeckt, sonst bekommen sie auf die Schnauze.“
Die Emotionen der Olympique-Fans richten sich nicht nur gegen politische Gegner. Der Verein muss das auf die harte Tour erfahren: Manchmal bleibt das Stadion wegen Disziplinarmaßnahmen der UEFA menschenleer
Der Verein hat erfahren müssen, dass sich diese Emotionen der Olympique-Fans nicht nur gegen politische Gegner richtet. In den ersten Heimspielen der Europa League blieb das Stade Vélodrome jüngst beinahe menschenleer: eine Disziplinarmaßnahme der UEFA für Fanausschreitungen, nicht die erste für den Club.
Im Spiel gegen Paris bleibt es abgesehen von ein paar Pyrofackeln und umherfliegenden Flaschen friedlich. Dabei geht es wieder mal um mehr als Fußball. Sportlich mag der von einer katarischen Investmenttruppe aufgepumpte Hauptstadtverein Marseille längst abgehängt haben. Sinnbildlich dafür steht der ungleiche Sprint zwischen Marseilles Boubacar Kamara und Paris-Star Kylian Mbappé, den der Weltmeister Mbappé mit dem 1:0 abschließt.
„Olympique ist der Melting Pot, der alle vereint und auf den alle stolz sein können“
Historisch aber gehen die Erzählungen anders aus: Anfang der 90er-Jahre war die Kurve in Paris deutlich sichtbar von Rechtsextremisten unterwandert. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen stahlen Marseiller Ultras die Bomberjacken der Rechten und drehten sie als Zeichen des Triumphs kurzerhand auf links, mit dem orangefarbenen Innenfutter nach außen.
Das Blau-Weiß der Olympique-Anhänger wird noch heute gelegentlich durch knalliges Orange gebrochen.
Solche Aktionen haben ihre Strahlkraft. Weit über die Landesgrenzen hinaus, aber auch nach innen: Auf ihnen basiert der identitätsstiftende Stolz des Marseiller Anhangs. „Überall in Frankreich und Europa hat Marseille den Ruf einer gefährlichen und dreckigen Stadt voller Ausländer – aber jeder feiert die außergewöhnliche Atmosphäre, die unsere Fans veranstalten“, sagt Filmemacher Rof. „Olympique ist der Melting Pot, der alle vereint und auf den alle stolz sein können.“
„Alles was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball“ Albert Camus
Schlusswort Rof, der kleine Mann verabschiedet sich und verschwindet im rotflackernden Qualm über dem Boulevard Michelet. Im Stade Vélodrome werden die Fans von Marseille 90 Minuten lang singen und schreien. Sie sind „le douzième homme“, der zwölfte Mann. Und bleiben es auch, als der deutsche Nationalspieler Julian Draxler zum 2:0 trifft und Paris erwartungsgemäß gewinnt. Die Enttäuschung in der Kurve Marseilles währt nur kurz.
„Alles was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball.“ Noch so ein Satz von Camus. Als moralischer Sieger fühlt sich auch an diesem Tag Olympique Marseille.
Fotos: Lionel Briot