Hast du jemals dein Vaterland in Anwesenheit von Ausländern kritisiert? Schreibst du deinen Namen in sozialen Netzwerken mit lateinischen Buchstaben? Hast du vor, Mutter oder Vater von mindestens drei neuen russischen Staatsbürgern zu werden? Wer bei solchen Fragen ins Grübeln gerät, dürfte es im letzten Sommerlager der Naschi-Jugend am Seliger See 350 Kilometer nordwestlich von Moskau schwer gehabt haben. Denn solche Fragebögen gehören in den Tagen gemeinsamen Kampierens genauso zum Programm der ideologischen Festigung wie das Auseinandernehmen und Zusammensetzen einer Kalaschnikow und ein gemeinsames Manöver, um im Ernstfall das Vaterland gegen eine „Aggression der USA und ihrer Marionetten“ verteidigen zu können.
„Naschi“ heißt „die Unseren“. Als die russische Jugendorganisation 2005 unter diesem Namen und auf Initiative der Staatsführung gegründet wurde, hieß das noch nicht viel – mehrere Vorgängerorganisationen waren bereits gescheitert. „Iduschtschie wmeste“ etwa, zu Deutsch „die gemeinsam gehen“, war kurz nach dem Amtsantritt Wladimir Putins 2000 der erste Versuch, eine staatsnahe Jugendbewegung aus der Taufe zu heben. Es folgte die Junge Einheit, später umbenannt in die Junge Garde. Beide waren Ableger der Regierungspartei Einiges Russland. Ihnen war nur mäßiger Erfolg beschieden.
„Die gemeinsam gehen“ kamen nicht vom Fleck. Man verstand sich als Bewahrer der russischen Kultur, führte Klage gegen zeitgenössische Schriftsteller wegen der angeblichen Verbreitung von Pornografie und versenkte die Werke des Schriftstellers Wladimir Sorokin öffentlichkeitswirksam in einer überdimensionalen Kloschüssel. Je prominenter die Opfer im westlichen Europa waren, desto größer der Zorn, der sie traf. Doch solch alberne Happenings brachten der Organisation mehr Spott als ernsthafte Beachtung ein.
Erst mit dem Namen „Naschi“ schien die Idee Form anzunehmen. Die Unseren bedeutet: Es gibt ein „Wir“, das die anderen ausschließt. Dass alle außen vor lässt, die nicht mitmarschieren, die nicht dazugehören wollen. Eine simple, im Russland Wladimir Putins aber überaus machtvolle Idee, als deren Urheber der damalige Vize der Kreml-Administration, Wladislaw Surkow, gilt – eine Art Regisseur der gelenkten Demokratie. Bis zur Präsidentenwahl 2008 sollte mit der neuen Jugendorganisation die Basis für eine ebenfalls neu zu gründende „Partei der Macht“ geschaffen werden. Deren Ziel: Demokratiebewegungen nach serbischem, georgischem oder ukrainischem Vorbild verhindern.
In den folgenden Jahren bis 2008 genoss die Organisation die Unterstützung des Kreml. Die Tradition des alljährlichen Sommerlagers am Selger See wurde begründet, handverlesene Vertreter der Bewegung von Putin in dessen privater Datscha empfangen. Die Unseren waren ganz die Seinen: Regelmäßige Großdemonstrationen von Naschi forderten unter dem Motto „Mit dem Präsidenten verbunden“ eine dritte Amtszeit für Putin. Zeitgleich sorgte ein neues Parteiengesetz dafür, dass die oppositionellen Parteien, die anderen also, aus dem politischen Spektrum Russlands verschwanden.
Die spektakulärste Aktion der kremltreuen Jugend in diesen Jahren war die Belagerung der estnischen Botschaft in Moskau im April und Mai 2007. Die Regierung in Tallinn hatte beschlossen, ein sowjetisches Ehrenmal aus dem Stadtzentrum auf einen Soldatenfriedhof am Stadtrand umzusetzen. In der Folge blockierten aufgebrachte Naschi-Anhänger wochenlang die estnische Botschaft in Moskau, schwenkten Transparente, auf denen das Bild der estnischen Botschafterin mit Hakenkreuzen versehen war, und forderten die „Demontage“ der Vertretung des „faschistischen“ Estland.
Die Aktion endete damit, dass Estland Einreiseverbote gegen Naschi-Mitglieder verhängte – eine in der EU umstrittene Maßnahme, da aufgrund des Schengen-Abkommens ein solches Einreiseverbot für einen Großteil der EU-Länder gilt. Auch zu Cyberattacken gegen die Webseiten der estnischen Regierung im Sommer 2007 bekannten sich Naschi.
Jahre später, im Februar 2012, gab es Berichte, dass Naschi außerdem ein Netzwerk von Bloggern unterhalten habe. Der frühere Naschi-Vorsitzende und Organisator Wassili Jakemenko, inzwischen staatlich bestellter Leiter der russischen „Jugend-Behörde“, habe demnach monatlich umgerechnet bis zu 15.000 Euro aus seinem Budget für regierungskonforme Posts bezahlt. Der Initiator soll auch in diesem Fall der Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, gewesen sein.
Gegner von Naschi sprechen auch gerne von der Putin-Jugend
2008 ging das Amt des russischen Präsidenten von Wladimir Putin auf Dmitri Medwedew über, Putin wurde Ministerpräsident. Die Rochade verlief reibungslos. Noch im Januar 2008 meldete die russische Zeitung „Kommersant“, die „Unsrigen“ stünden vor großen strukturellen Veränderungen. Der Kreml wolle die Organisation nicht mehr als föderales Projekt fördern. Mit anderen Worten: Die Zeit großzügiger finanzieller Förderung war vorbei. Offenbar hatte die Polit-Komparserie mit dem erfolgreichen Amtswechsel ausgedient. Von 50 Naschi-Büros in den Regionen blieben nur fünf erhalten.
Die Sommerlager am Seliger See dagegen wurden fortgesetzt. Sie sind seit 2005 die Konstante der Jugendarbeit des Kreml. In den patriotischen Unterweisungen und der Wehrerziehung dieser Camps zeigen sich inhaltliche und strukturelle Parallelen zu Bewegungen in faschistischen Staaten wie etwa der Hitlerjugend. Russische Gegner von Naschi sprechen daher auch gern von der Putin-Jugend.
Wie erfolgreich patriotische Erbauung sein kann, zeigen die Karrieren zweier regelmäßiger Teilnehmer des Camps: Andrej Purgin ist heute Parlamentsvorsitzender der „Volksrepublik Donezk“ in der abtrünnigen Ostukraine, und Pawel Gubarjew, bis Oktober 2014 „Volksgouverneur“ von Donezk. Auf ihre Aufgaben eingeschworen wurden sie am Seliger See.