Es war ein kleines Publikum. 200 Menschen vielleicht, kein Rahmen für einen Star wie Xavier Naidoo, der Hallen und Stadien füllt. Trotzdem war der Auftritt des gottesfürchtigen Barden („Jesus ist mein Vorbild“) am 3. Oktober auf einer Demo vor dem Bundestag einer seiner medienwirksamsten. Er sei zufällig vorbei gekommen, sagte Naidoo später, und spontan auf die Bühne gegangen. Er habe gar nicht gewusst, wer da vor ihm stand. Auf der Bühne erzählte er erst von Liebe und Frieden. Dann, dass all jene, die die gängigen Erzählungen vom September 2001 für wahr hielten, einen Schleier vor den Augen hätten. Schließlich sang er ein Lied „Was wir alleine nicht schaffen, schaffen wir zusammen“. Das Publikum war begeistert. Naidoo sprach vor einer Versammlung der sogenannten „Reichsbürger“.
Die gelangten damit erstmals richtig ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Zuvor hatten mit diesen Verschwörungsideologen insbesondere Ordnungsämter, Bußgeldstellen, Finanzbehörden oder die Polizei ihre Mühe. Denn die „Reichsbürger“ zahlen keine Steuern, Strafzettel oder Rundfunkgebühren. Die Bundesrepublik Deutschland, die hier finanzielle Forderungen geltend macht, existiere gar nicht, lautet ihre Sicht auf die politischen Verhältnisse. Die Weimarer Verfassung von 1919 sei formal nie aufgelöst worden, weder von den Nazis 1933, noch von den Alliierten 1945. Die Bundesrepublik sei lediglich eine Art politische „Truman Show“ – ein von den Besatzern inszeniertes Staatsschauspiel auf dem Gebiet des weiterhin existierenden Deutschen Reichs. Das ist natürlich Unfug, weil die DDR durch eine Erklärung der UdSSR 1954 und die Bundesrepublik Deutschland durch den Deutschlandvertrag von 1955 souverän wurden. Die endgültige Souveränität des vereinten Deutschlands stellte 1990 der Zwei-plus-vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten her.
Die Agenda der „Reichsbürger“ ist schnell erklärt: Sie wollen eben jenes „Reich“, das nach ihrer Auffassung formell immer noch existiert, wiederaufleben lassen. Und im Kleinen tun sie das schon: Sie stellen selbst gestaltete Pässe, Baugenehmigungen und Führerscheine aus, organisieren Tauschringe und gründen Fantasieprovinzen wie das Fürstentum Germania im Norden Brandenburgs oder Germanitien in Württemberg. Vorstufen, bis das „Reich“ wieder eine handlungsfähige Regierung hat.
Weil das Realitätsverweigerung ist, tauchte die Bewegung vor Xavier Naidoos Auftritt am Tag der Deutschen Einheit in den Medien eher im Vermischten auf – als kleine Randnotiz. Dabei ist das Thema ernster, als es klingt. Der Verfassungsschutz hat die „Reichsbürger“-Bewegung schon länger auf dem Radar. Sie ist ein Sammelbecken für Neonazis und Antisemiten. Immerhin fordern die „Reichsbürger“ ein Deutschland in den Grenzen von 1937. Bei so viel Geschichtsrevisionismus ist es kein Wunder, dass auch die NPD kräftig mitmischt. Bei Naidoos Auftritt war etwa der Berliner NPD-Vorsitzende Sebastian Schmidtke vor Ort. Der bekannteste „Reichsbürger“ ist Horst Mahler, früher gründete er die RAF mit, dann richtete er sich nach rechts und wurde NPD-Anwalt (heute wegen Volksverhetzung inhaftiert und ohne Zulassung), Antisemit und Holocaust-Leugner. Nicht weniger beunruhigend: Es werden mehr. Das konnte man zuletzt auf Mahnwachen, Friedensmärschen und den sogenannten Montagsdemonstrationen beobachten, die von rechts unterwandert wurden und viele Menschen anziehen, die grundsätzlich etwas gegen Deutschland und seine Verfassung haben.
Braune Esoterik vermischt mit rechten und antisemitischen Verschwörungstheorien
Die „Reichsbürger“ sind ein bundesweites Phänomen, aber keine einheitliche Bewegung. Sie sind in kleinen Gruppen organisiert, oft KRRs genannt – nach der ersten „Kommissarischen Regierung des Deutschen Reichs“, die 1985 in Westberlin gegründet wurde. Zu den umtriebigsten zählt heute die „Exil Regierung Deutsches Reich“. Nach deren Gedankengut muss man auf der Internetseite nicht lange suchen. Gleich auf der Startseite wird mit der „Boot-ist-voll-Rhetorik“ gegen Asylbewerber gewettert, die Medienberichterstattung in der Ukraine-Krise als einseitig und Russland-feindlich bezeichnet und zum Mitmachen aufgerufen. Bewerben kann man sich etwa für eine Stelle im „Reichsministerium für die besetzten Gebiete“. Noch weiter geht eine Gruppierung namens „Die Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philosophen“. Die mischt braune Esoterik mit rechten und antisemitischen Verschwörungstheorien und rassistischer Hetze. Und sie verschickt Morddrohungen. Die tauchten in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg und Schleswig Holstein auf – nicht nur in Briefkästen jüdischer und muslimischer Einrichtungen, sondern auch bei Einzelpersonen.
Xavier Naidoo ist keiner von diesen Briefeverschickern. Aber er hat deren rechtspopulistischen „Das wird man doch mal sagen dürfen“-Jive gut drauf. In Mannheim registriert man mit Beunruhigung, dass sich der wichtigste Imageträger der Stadt in die Nähe von Demokratieskeptikern, Amerikahassern, Israelfeinden und anderen politischen Irrläufern begibt. Das von Naidoo und seinem Produzenten in Mannheim initiierte Projekt, eine ehemalige US-Kaserne in einen Medienpark für Musik- und Showproduktionen umzuwandeln, ist auf Eis gelegt worden. Auch die Popakademie setzte die Zusammenarbeit mit ihrem prominenten Gastdozenten aus. Großen Respekt dagegen zollt ihm die NPD auf ihrer Homepage. Der Sohn Mannheims sei einer, der „unangenehme Wahrheiten“ ausspreche.