Am Tag zehn nach der Injektion sind die 50 „Krebsmäuse“ im Tierstall der Philipps-Universität Marburg immer noch quicklebendig. Keine Müdigkeit, keine Auffälligkeiten am Fell. Und vor allem: noch immer keine Krebszellen im Blut. Zum Beweis nimmt Michael Lohoff einen schuhkartongroßen Käfig aus dem Regal und stellt ihn auf den Tisch. Fünf schlanke schwarze Mäuse wuseln in der Box hin und her. Sie ist mit Stroh ausgelegt, alle paar Sekunden wühlt eine der Mäuse mit den Hinterpfoten darin. Dass Lohoff jeder von ihnen 300.000 Tumorzellen gespritzt hat, sieht man ihnen nicht an. Nur die farblich markierten Schwänze fallen auf. „Zum Zeichen, welcher ich am Morgen Blut abgenommen und auf Krebszellen getestet habe“, sagt Lohoff. Mit dem Ergebnis ist er jedoch unzufrieden: „Langsam sollten die Mäuse Leukämie haben.“
Michael Lohoff ist Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene. Seit 20 Jahren forscht der Immunologe zur Funktionsweise sogenannter T-Zellen, einer Untergruppe weißer Blutkörperchen, die im menschlichen Körper das Immunsystem mitsteuern. Seit ungefähr anderthalb Jahren erforscht er, unter welchen Umständen sich eine bestimmte Krebsart herausbildet – und wie sie therapiert werden könnte. Seine 50„Krebsmäuse“ sollen nun bestätigen, was er bereits im Reagenzglas nachweisen konnte: dass ein bestimmter Gendefekt regelmäßig zu einer Unterform der Leukämie führt, die häufig bei Kindern auftritt. Und dass so entstandene Krebszellen am besten mit einer Kombination zweier bereits bekannter Medikamente bekämpft werden können. Im besten Fall kann schon bald eine erste klinische Studie dazu am Menschen durchgeführt werden. „Deshalb bin ich so ungeduldig mit den Mäusen“, sagt Lohoff. „Ich denke an die Leukämiepatienten, denen man vielleicht schon bald helfen kann.“
„Die Mäuse leiden, keine Frage.“ Sagt einer, der täglich an Labormäusen arbeitet.
Lohoff ist nicht der einzige Wissenschaftler, der im Namen der Forschung Krebszellen in Mäuse verpflanzt. 125.614 Tiere sind laut Bundesregierung im Jahr 2017 in der Krebsforschung eingesetzt worden. Insgesamt wurde an etwa 2,8 Millionen Tieren geforscht, vor allem an Mäusen, Ratten, Kaninchen und Fischen, aber auch an Tausenden Affen und Halbaffen. Laut Landwirtschaftsministerium waren dabei 27 Prozent der Tiere kurzzeitig mittelstarken Schmerzen oder Ängsten, fünf Prozent starken Schmerzen ausgesetzt, und neun Prozent starben nach einer Narkose. „Es ist unsere ethische Pflicht, die Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen zu beschleunigen“, sagte die zuständige Ministerin Julia Klöckner (CDU) zu Amtsbeginn. Doch noch werden die allermeisten Versuchstiere anschließend getötet. So auch die „Krebsmäuse“ in Marburg.
„Die Mäuse leiden, keine Frage“, sagt Michael Lohoff. Allein die Blutentnahme und die „Fütterung“ per Sonde stresse die Tiere. Wenn dann die Belastungen der Leukämie aber einen festgelegten Schweregrad erreichten oder die Tumore eine Größe von 1,5 Zentimeter überschritten, würden die Mäuse getötet. Was für Lohoff ein notweniges Übel seiner Forschung ist, halten Tierschutzgruppen wie Peta oder Vereine wie „Ärzte gegen Tierversuche“ für Tierquälerei.
• 125.614 Tiere sind 2017 laut Bundesregierung zur Krebsforschung eingesetzt worden
• insgesamt wurde in diesem Jahr an etwa 2,8 Millionen Tieren geforscht
Viele Tests sind gesetzlich vorgeschrieben, etwa bei der Zulassung von Medikamenten, Chemikalien oder Pestiziden. Für alle übrigen Versuche muss der Forscher nachweisen können, dass der Tierversuch „unerlässlich“ und „ethisch vertretbar“ ist. So schreibt es das Tierschutzgesetz vor.
„Das Tierwohl wird hier der Befriedigung von Neugier der Wissenschaftler untergeordnet“, kritisiert Anne Meinert, die bei Peta als Fachreferentin für den Bereich Tierversuche arbeitet. Zumal Wirkstoffe in Tieren oft ganz anders wirkten als im menschlichen Körper. Aspirin, eines der am meisten eingenommenen Schmerzmittel weltweit, ist für Katzen tödlich. Bei Hunden, Affen, Mäusen und Ratten führt das Medikament zu missgebildeten Nachkommen. Ein anderes beliebtes Schmerzmittel – Paracetamol – löst bei Nagetieren Krebs aus. Tatsächlich kommt es bei der Zulassung von Medikamenten immer wieder dazu, dass Tierversuche Nebenwirkungen am Menschen nicht zuverlässig voraussagen. 2016 starb in Frankreich sogar ein Proband an den Folgen eines Medikaments, das nach dem Tierversuch als unbedenklich galt. Für Peta-Referentin Meinert ein Grund mehr, vom Staat einen klaren Ausstiegsplan aus Tierversuchen wie in den Niederlanden zu fordern. „Tierversuche sind nicht nur ethisch verwerflich, sondern auch unwissenschaftlich.“
Tierversuche für Kosmetika, Waschmittel oder Tabakprodukte sind schon lange verboten
Bei dieser Schlussfolgerung schüttelt der Marburger Immunologe Michael Lohoff entschieden den Kopf. Und dann holt er aus, um darzulegen, wie bedeutend Tierversuche in der Forschung seiner Meinung nach sind. Lohoff spricht von Eiweißen namens PD-1 und CTLA-4, von Mausversuchen in den Achtzigern und Neunzigern, ohne die die moderne Krebsforschung vielleicht nie darauf gekommen wäre, wie man Immunzellen in Tumorkiller verwandelt. Mit diesem Wissen hätten erstmals aussichtslose Fälle von bösartigem Hautkrebs erfolgreich behandelt werden können. „Wer da noch behauptet, Tierversuche seien ethisch nicht vertretbar, ist nicht mehr zu retten.“
Lohoff stört an der Debatte um Tierversuche noch etwas anderes. Oft werde ihm unterstellt, sich leichtfertig zu Tierversuchen zu entschließen. „Meinen Sie, mir macht das Spaß, Mäusen Krebs zu spritzen und sie dann später umbringen zu müssen?“ Allein der Aufwand für die Genehmigung sei abschreckend. Zuerst müsse er den Antrag bei der Tierschutzbeauftragten seiner Universität durchbekommen. Danach reicht er den Antrag bei der zuständigen Bezirksregierung in Wetzlar ein. Hat die keine Einwände, wird er von einer Tierversuchskommission begutachtet, in der neben Wissenschaftlern auch Vertreter von Tierschutzorganisationen sitzen. Die Kommission entscheidet, ob Lohoff überzeugend darlegen konnte, dass der Tierversuch für sein Forschungsvorhaben zwingend notwendig ist und dass er die Belastung für die Mäuse so gering wie möglich hält. Die Empfehlung der Kommission ist für die genehmigende Behörde allerdings nicht bindend. „Manchmal geht das schon mehrmals hin und her, bis ein Antrag genehmigt wird“, sagt Lohoff und seufzt.
• 27% der Tiere hatten bei den Tierversuchen kurzzeitig mittelstarke Schmerzen oder Ängste, 5% starke Schmerzen
• 9% starben nach einer Narkose
Gilbert Schönfelder schmunzelt, wenn man ihn auf Lohoffs Erfahrungen mit der Bezirksbehörde anspricht. „In der Forschung wird jede Form der Bürokratie schnell als Zumutung empfunden.“ Allerdings liegt die Ablehnungsquote laut „Ärzte gegen Tierversuche“ bundesweit bei unter einem Prozent. Der Toxikologe von der Berliner Charité leitet das 2015 gegründete Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren. Schönfelders Aufgabe dort: Tierversuche in Deutschland so weit wie möglich zu reduzieren, durch Alternativen zu ersetzen und – wenn das nicht möglich ist – Tierversuche so schonend wie möglich zu gestalten. Das alles sei die Folge einer breiten gesellschaftlichen Debatte, die hierzulande schon weiter sei als anderswo, erklärt Schönfelder. So seien Tierversuche zur Entwicklung von Waffen, Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika in Deutschland seit vielen Jahren verboten.
Jährlich vergibt das Bildungsministerium rund fünf Millionen Euro für innovative Ideen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung fördert Alternativen zudem mit circa 350.000 Euro im Jahr – zum Beispiel zur Entwicklung von Organmodellen aus 3-D-Druckern, die Studien an Tierlebern eines Tages überflüssig machen könnten. Zu wenig, findet Schönfelder. „Das Ziel muss aber klar sein, irgendwann komplett auf Tierversuche zu verzichten.“
Noch müssen die Forscher zwischen zwei Grundrechten abwägen: dem Tierschutz und der Wissenschaftsfreiheit. Ein Dilemma
Noch aber werden Forscher eine Balance zwischen zwei im Grundgesetz verankerten Rechten finden müssen: dem Tierschutz und der Wissenschaftsfreiheit. „Es bleibt für Forscher ein Dilemma“, sagt Schönfelder. Vor allem, wenn man bedenkt, dass 80 Prozent der aktuellen Tierversuche für die Erforschung und Heilung der menschlichen Volkskrankheiten verwendet würden. Also vorrangig für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nervenleiden – und Krebs.
Am Tag 19 nach der Tumorspritze ist es so weit. Die „Krebsmäuse“ im Tierstall der Philipps-Universität Marburg haben nun Leukämie. Michael Lohoff kann jetzt beginnen, die Wirksamkeit der Medikamente an den Mäusen zu testen. Los geht’s mit Dexamethason. Lohoff ist optimistisch: „Bisher klappt’s perfekt.“ In ein paar Wochen weiß der Forscher, ob seine Spur im Kampf gegen Leukämie heiß ist – oder nicht. Die Mäuse leben dann nicht mehr.
Weiterlesen könnt ihr im bpb-Dossier zu tierethischen Positionen.
Titelbild: AFP/Getty Images