Sieben bis neun Stunden gesunder Schlaf, 10.000 Schritte, 2.000 bis 2.500 Kalorien, aber bloß nicht zu viele Kohlenhydrate und gesättigte Fettsäuren. So sieht der von Ärzten empfohlene gesunde Tag aus – damit es irgendwann auch mit dem Wunschblutdruck von 120 zu 80 und dem 21er Body-Mass-Index klappt. Bloß: Wer kennt seine eigene Energiebilanz schon so genau, um etwas mit den schlauen Zahlen anfangen zu können?
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/01.jpg?itok=SXehZJja)
Im August 2013 wurde bei Alex Diabetes Typ 1 diagnostiziert
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/02.jpg?itok=laoicg4s)
Daraufhin musste er sein Leben komplett umstellen: Weil Bewegung Zucker in die Zellen bringt, hat er neben seinen täglichen Trainingseinheiten an diversen Marathons teilgenommen und den ein oder anderen Gipfel bezwungen
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/03.jpg?itok=4x2y3XQo)
Adriana benutzt die App „Emotion Sense“, um ihre Stimmung und ihre Freude im Alltag zu dokumentieren
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/04.jpg?itok=OKwCf3nY)
Die App fragt sie zwei Mal am Tag nach ihrem Wohlergehen. „Ich dachte immer, ich wäre allgemein eher schlecht gelaunt, aber nachdem ich die App nun eine Weile genutzt habe, merke ich, dass ich deutlich glücklicher und positiver gestimmt bin, als angenommen.“
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/05.jpg?itok=hD4IOfeo)
Barbara und ihre Familie haben einen guten Weg gefunden, Probleme noch schneller auszuräumen
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/06.jpg?itok=jTIPcpo1)
Die App, die ihnen dabei hilft, haben sie selbst programmiert. Mit ihr kann jeder sehen, mit welchen noch nicht gelösten Aufgaben und Problemen sich die einzelnen Familienmitglieder herumschlagen und dann selber versuchen, Verantwortung für die anderen zu übernehmen
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/07.jpg?itok=WLHFUyM7)
Ian war früher ein begeisterter Sportler. Doch seit er 2007 an Krebs erkrankt ist, muss er aufpassen, seinen Körper nicht falsch zu belasten
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/08.jpg?itok=JDvycnBV)
Dabei hilft ihm der „Tanita Monitor“, der mehrmals täglich Ians Gewicht und sein Fettgewebe auf Veränderungen kontrolliert
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/09.jpg?itok=6tMb5v2Z)
Seit sie 16 Jahre alt ist, wollte Kate immer dünn bleiben
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/10_0.jpg?itok=o_L-gMo9)
Deswegen hat sie sich eine einfach Methode ausgedacht: Sie zählt die Kalorien, die sie pro Tag zu sich nimmt. Jeden Tag aufs Neue schafft sie es unter ihrer selbsterlegten Grenze von 1800 Kalorien zu bleiben
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/11_0.jpg?itok=lbOMWUiu)
Einmal im Monat betritt Suran eine elektronische Röhre, in der sein Körper gescannt wird
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/12.jpg?itok=Z4UDfjal)
Die Maschine macht dann 3D-Aufzeichnungen von ihm. Anhand der produzierten Bilder kann er betrachten, wie er aussehen wird, wenn er an Gewicht zulegt oder verliert
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/13_0.jpg?itok=qMQU7eYN)
Lindsay fährt jeden Tag mit ihrem Rennrad
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/14_0.jpg?itok=doyxqx_x)
Immer mit dabei ist ihr Fahrradcomputer und eine App namens „Strava“. Damit misst sie nicht nur ihre eigenen Fitnesswerte und ihre Herzfrequenz, sondern vergleicht die Daten gleichzeitig noch mit über 640.000 anderen App-Nutzern
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/15_0.jpg?itok=EPTFpJJS)
Immer wenn Ash für eine seiner Übungen eine Hantel stemmt, notiert er sich das Gewicht, das er gehoben hat
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/16_0.jpg?itok=Xpj7USFW)
So kann er zurückverfolgen, ob der Aufbau einzelner Muskelgruppen Fortschritte gemacht hat
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/17.jpg?itok=6qPmf-Ao)
Auch Michael benutzt eine App, um einen Überblick über seinen allgemeinen Gemütszustand zu bekommen
![The Quantified Self](https://fluter.de/sites/default/files/styles/article_full_width/public/galeries/18.jpg?itok=YZMvrYaG)
Mehrmals pro Tag gibt er an, ob er glücklich oder unglücklich ist. Die App half ihm in einer Phase der Depression ihn aufzurütteln. Jetzt hat er seine Depression überwunden
Vor ein paar Jahren waren das lediglich ein paar Körperfreaks und Techniknerds aus den USA. 2007 gründeten die Journalisten des amerikanischen Magazins „Wired“, Gary Wolf und Kevin Kelly, in San Francisco das Blog Quantified Self und gaben der Bewegung eine zentrale Plattform. Heute bedient eine ganze Industrie die Lust am Vermessen. Mit Sensor im Schuh und Fitbit-Band am Handgelenk vor die Tür zu gehen ist ganz normal – sagt die Werbung. Ständig laufen Clips für die neuesten Fitness-Gadgets und Gesundheits-Apps. Allein quantifiedself.com listet 43 Geräte zur Selbstvermessung auf. Kaum etwas, das es nicht gibt: Um noch zur Avantgarde zu gehören, müsste man schon seine Hirnströme, den Feuchtigkeitsgehalt seiner Haare oder die eigene Darmaktivität per Infrarot unter die Lupe nehmen.Das ist das große Projekt der Quantified-Self-Bewegung. Ihre Anhänger erheben Daten über ihren Körper und übersetzen sie mit digitalen Hilfsmitteln in Zahlen. Sie zählen Schritte und Kalorien, verfolgen Herzfrequenz und Blutdruck, überwachen ihren Schlaf – und vergleichen ihre Werte anschließend in sozialen Netzwerken.
In Deutschland hat der Blogger und Digital-Health-Berater Florian Schumacher, 34 Jahre, Quantified Self bekannt gemacht. Erst hat er seine Finanzen überwacht, dann seinen Schlaf, schließlich sein Blutbild. „Durch die Kenntnis über meine Daten bin ich sportlich aktiver geworden und habe mehr über meine Ernährung gelernt“, sagt Schumacher. „Jeder weiß, dass Bewegung und gesundes Essen gut ist. Aber wer kann diese abstrakten Zahlen über Schritte und Kalorien schon für sich anwenden?“ Das Tracken mache sie einem bewusst und helfe dabei, die eigenen Ziele zu erreichen. Dabei seien sie viel billiger als ein Personal Trainer.
Schon Kant meinte, man solle weder Ärzten noch anderen Autoritäten trauen. Sondern nur sich selbst. Was aber hätte der Philosoph wohl über ein Armband gesagt, das unsere Schritte zählt, uns in einer bestimmten Schlafphase weckt und vibriert, wenn wir zu lang auf der Couch gesessen haben? Hätte er darin ein Stück Aufklärung oder eine neue Unfreiheit erkannt? Zunächst klingt es sinnvoll, Daten zu erheben und zu vergleichen, Kontrolle zu bewahren und Ziele zu setzen, um gesünder zu leben. Man muss jedoch die Messwerte der Fitnessgeräte und die Ratschläge der Apps richtig einordnen können – findet auch Schumacher.
„Die Apps geben keine grundlegend falschen Empfehlungen. Und die Technik wird immer besser“, sagt der Self-Tracking-Pionier. Die Entwicklung gehe von motivierenden Geräten, die den Lebensstil unterstützen, zu diagnostischen Geräten, die Krankheiten erkennen. Schumacher sieht auch in der wachsenden Datenmenge eine große Chance: „Je mehr Daten sich vergleichen lassen, desto besser kann die Medizin individuell optimierte Medikamente entwickeln. Das ist eine Zukunft, die riesige Vorteile mit sich bringt.“
Der leichtfertige Umgang mit den eigenen Daten sei aber nicht das Hauptproblem der Quantified-Self-Bewegung. Schließlich brauchen wir gar keine Strippenzieher, die uns von der Freiwilligkeit in den Zwang treiben. Das schaffen wir ganz allein. Loebel warnt deshalb noch vor anderen Folgen der Selbstvermessung. Helfen uns die Zahlen tatsächlich für ein besseres Leben, oder passen sie uns nur in ein erwünschtes System ein? „Gestern haben uns die Geräte noch passiv vermessen. Heute erklären sie uns schon, was diese Daten bedeuten. Sie haben einen Algorithmus einprogrammiert, eine Wahrheit, der wir uns unterwerfen. Aber ob die wirklich gut für uns ist, sei dahingestellt.“Noch vor einer Generation beschwor das Thema Datenerfassung das Schreckgespenst des Überwachungsstaats. Heute herrscht im digitalen Alltag ein oft sorgloser Umgang damit. Google speichert unsere Suchbegriffe, Amazon unsere Kaufinteressen, Facebook unser soziales Leben. Wann wir wo mit wem warum unterwegs waren und wen wir dort kennenlernten oder verpasst haben. Was hält eigentlich die Krankenkasse von meinem Fast-Food-Faible? Was die Autoversicherung von meinem Fahrstil? Die Daten liefern die Menschen selbst in ihrer allgemeinen digitalen Unbekümmertheit.
„Die meisten Leute sind sich nicht bewusst, welche Daten erfasst werden und wer sie verwenden könnte“, sagt der Wissenschaftler Jens-Martin Loebel. „Sie sehen den Mehrwert für sich selbst, doch am meisten profitieren vor allem die Anbieter. Wenn Selbstvermessung zur Bedingung von Versicherungspflichten wird, ist es problematisch.“ Loebel forscht auf dem Gebiet der Datenspeicherung und hat jahrelang seine eigenen GPS-Daten ausgewertet. „Es ist erschreckend, wie leicht ich berechnen konnte, wo ich mich mit wem aufgehalten habe. Heute bemühe ich mich um Datensparsamkeit.“
Philipp Brandstädter ist freier Journalist in Berlin. Seiner Fitness-App zufolge ist er in der vergangenen Woche 52.574 Schritte gelaufen und hat am liebsten gesättigte Fettsäuren gegessen.
Fotos: Travis Hodges / INSITUTE