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„Es bricht eine andere Zeit der Datennutzung an“

Die Corona-Krise durch Big Data überwinden: zu schön, um wahr zu sein? Medienwissenschaftler Felix Stalder schätzt die Risiken und Nebenwirkungen ein

Koreanerinnen am Flughafen in Seoul / Foto: Geyres Chri stophe/ABACA/picture-alliance

fluter.de: In Südkorea nutzt die Regierung GPS- und Kreditkartendaten, um infizierte Patienten auf einer Livekarte sichtbar zu machen. Wie finden Sie das?

Felix Stalder: Zu wissen, mit wem Corona-Patienten Kontakt hatten, ist ein wichtiges Mittel bei der Bekämpfung dieser globalen Pandemie. In Deutschland wird dieses sogenannte „Social Tracing“ durch die Mitarbeiter der Gesundheitsämter vorgenommen. Sie überprüfen durch Befragungen, mit wem der Infizierte Kontakt hatte. Das ist mühsam, dauert und ist nicht unbedingt effektiv. Das Vorgehen in Südkorea zeigt, dass diese Informationen einfacher und schneller durch eine Datenauswertung ermittelt werden können. Dort arbeitet die Regierung mit den GPS-Daten der Bürger. Damit können sie bis auf zwei Meter genau sagen, wer an welcher Kreuzung auf welcher Seite der Straße steht.

Klingt nach Überwachung und ziemlich dystopisch.

Das kann man als Beginn eines orwellhaften Überwachungsstaates deuten – oder als effektive Gesundheitsfürsorge. Diese Daten bekommt man nicht von den Mobilfunkanbietern, weil sie zu deren Erhebung technisch nicht in der Lage sind. Diese Daten müssen die Nutzer selbst freigeben. In Südkorea läuft das über eine App, die die Bewegungen von Quarantänepatienten nachvollziehen kann. Und in Taiwan geben die Erkrankten per App die täglichen Temperaturmessungen an das Gesundheitsamt durch. Die Bürger geben also ihr Einverständnis, dass sie gerade „überwacht“ werden. Welche Aufgaben erledigen die Behörden bei uns schon gut, und für welche haben wir durch die Digitalisierung bessere Lösungen? Das ist eine wichtige Frage.

„Wir sollten den individuellen Datenschutz und den kollektiven Nutzen gegeneinander abwägen“

In Deutschland hat das Robert Koch-Institut fünf Gigabyte an Telefondaten von der Deutschen Telekom zur Verfügung gestellt bekommen. Was sagen diese Daten über den einzelnen Nutzer aus?

Diese Daten von der Telekom sind relativ ungenau und laut Telekom anonymisiert. Das sind Daten aus Funkzellen, also jenem Bereich, in den sich das Mobiltelefon in das Netz einwählt. In eine Funkzelle sind gleichzeitig Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Nutzer eingewählt.

Also kann man mit diesen Daten keine Corona-Patienten tracken.

Nein, denn nicht nur sind dafür die Funkzellendaten zu ungenau, auch hat man ja keine Daten von den Gesundheitsämtern und weiß nichts über den Gesundheitszustand der Nutzer. Das ist ein ganz anderer Fall als bei den App-Daten in Taiwan oder Südkorea. Solche Funkzellendaten kann man heranziehen, um zu sehen, ob sich die Bürger an die Ausgangssperre halten. Denn dafür muss man nicht wissen, ob sie fünf Meter links oder rechts stehen oder wie sie heißen, sondern es reicht zu sehen, ob sich die Bewegung im öffentlichen Raum reduziert.

Utopie oder Dystopie? In Südkorea zeigt eine App, an welchen Orten Menschen waren, die später positiv auf Corona getestet wurden (Foto: picture alliance/Kyodo)

Angenommen, Deutschland folgt dem Vorbild Südkoreas oder Taiwans und entwickelt Apps zur Gesundheitsüberwachung: Sorgen Sie sich nicht um den Datenschutz, den Eingriff in die Privatsphäre der Menschen?

Ich finde es wichtig, diese Datennutzung in Relation zu sehen: Aktuell sind in Deutschland rund 62.000 Menschen infiziert, die Dunkelziffer wird sehr viel höher geschätzt. Dass wir derzeit 80 Millionen Menschen in die Isolation schicken, liegt ja nur daran, dass wir die Infizierten nicht besser bestimmen können – eine sehr umfassende Freiheitsbeschränkung, die wir mit einer besseren Datenlage vermeiden könnten. Ich denke, wir sollten den individuellen Datenschutz und den kollektiven Nutzen gegeneinander abwägen. Privatwirtschaftliche Anbieter wie Google, Facebook oder die Telekom werten unser aller Daten die ganze Zeit zu ihrem eigenen Nutzen aus, um neue Produkte zu entwickeln oder zu bewerben. Jetzt gäbe es die Notwendigkeit, aus diesen Daten etwas herauszulesen, was im öffentlichen Interesse ist. Aber wir haben keinen Zugriff auf die wirklich aussagekräftigen Daten.

„Was einmal eingeführt wird, das bleibt“, sagte Constanze Kurz, eine Sprecherin des Chaos Computer Clubs. Überwachungstechniken, die in Krisenzeiten etabliert werden, würden normalisiert. Sehen Sie das auch so?

Ja, absolut. Natürlich kann bei dieser Art von Datennutzung viel schiefgehen. Aber was mich an dem Datenschutz-Diskurs stört, ist, dass er so defensiv ist. Dass er dieser Notlage, in der in ganz Europa Millionen Menschen in ihre Häuser gezwungen sind, nichts entgegenzusetzen hat. Hier passiert gerade etwas, und wir könnten die Chance nutzen, ein Modell zu etablieren, das die Verwendung der Daten in einen demokratischen Prozess einbindet. Ich weiß, dass das sehr heikel ist. Aber mir scheint es falsch, die Verwendung der Daten nur den Konzernen zu überlassen.

Unter welchen Voraussetzungen halten Sie die Nutzung der anonymisierten Daten zur Bekämpfung von Covid-19 für legitim?

Ganz wichtig ist, dass es eine Nutzungsbeschränkung gibt. Die Daten sollten nur zur Modellierung von Bewegungsströmen genutzt werden. Wenn sie diesen Zweck erfüllt haben, dann müssen sie auch gelöscht werden. Dafür sollte es eine klare Frist geben.
Außerdem braucht es eine Stelle, die festlegt, welche Fragen bei der Datenanalyse von gesellschaftlichem Interesse sind. Das könnte in diesem Fall das Robert Koch-Institut in Absprache mit den Gesundheitsämtern sein. Damit verhindert man, dass die Daten in anderen Fragen herangezogen werden. Wichtig wäre außerdem, dass mindestens zwei verschiedene Teams aus unabhängigen Instituten mit der Modellierung beauftragt werden, neben dem Robert Koch-Institut vielleicht auch noch eine Technische Universität. Wichtig ist, die Datennutzung nach der Krise öffentlich zu evaluieren. Wenn klar ist, dass der Prozess am Ende überprüft wird, dann wird auch jetzt schon anders mit diesen Daten umgegangen. Die Gefahr von Missbrauch ist deutlich geringer. Auch grobe Bewegungsdaten sind Herrschaftswissen, mit dem man die Gesellschaft verändern kann. Aber das will man ja in diesem Fall auch!

In den USA soll es Pläne zur umfassenden Zusammenarbeit zwischen Internetgiganten wie Google und Facebook und der US-Regierung geben. Befürchten Sie einen datenschutzrechtlichen Dammbruch?

Das ist das Worst-Case-Szenario: Die GPS-Daten, die sich die Regierungen nur von den Nutzern selbst geben lassen können, hat Google ja alle schon. Und nun schicken sich die mächtigen Institutionen an – der Staat und die Big-Data-Konzerne –, diese Daten zusammenzuführen und auszuwerten. Die Bürger werden nie erfahren, was mit ihren Daten genau gemacht wurde. Sie können nichts tun als vertrauen. Das ist für eine demokratische Struktur ein bisschen wenig. Aber es ist ein guter Anlass, über die legitime Nutzung der Daten zu diskutieren, die wir Nutzer weltweit sonst so freimütig mit einem einfachen Klick freigeben.

Welche Auswirkungen könnte eine solche Zusammenarbeit auf die Nutzer dieser Dienste in Deutschland und Europa haben?

Falls diese Zusammenarbeit zwischen der US-Regierung und den Big-Data-Konzernen in der Krise sehr erfolgreich sein sollte, wird der Druck steigen, das auch bei uns hier möglich zu machen. In jedem Fall bricht eine andere Zeit der Datennutzung an. Die Frage ist, ob man diese über einen öffentlichen Diskurs demokratisch gestaltet oder sie weiterhin nur den sehr wenigen mächtigen Akteuren überlässt.

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Felix Stalder (Foto: Dominik Landwehr)
(Foto: Dominik Landwehr)

Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung in Zürich. Er beschäftigt sich damit, wie Gesellschaft, Kultur und Technologien zusammenwirken, und hat das Buch „Kultur der Digitalität“ geschrieben.

Titelbild: Geyres Christophe/ABACA/picture-alliance

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