Eine Horde Wildziegen, die durch menschenleere Straßenzüge zieht und in Vorgärten einfällt: Diese Bilder aus dem nordwalisischen Llandudno gingen Ende März um die Welt. Im Zuge der coronabedingten Ausgangsbeschränkungen war das öffentliche Leben zum Stillstand gekommen, und die Tiere hatten sich in die Kleinstadt getraut. Die Natur übernimmt die Zivilisation – als Gamer ist man solche Szenen gewöhnt. Schließlich sind Untergangsfantasien in der Spielewelt so weit verbreitet wie Schrebergartenanlagen in deutschen Städten. Doch wie fühlt es sich an, so etwas in Krisenzeiten zu spielen? Und lässt sich aus der interaktiven Dystopie womöglich etwas für unsere Gegenwart mitnehmen? Unser Autor hat sich drei Spiele mal genauer angesehen.
„Tom Clancy’s The Division 2“ – Wildnis in New York
Die passende Kulisse zur Pandemie liefert „Tom Clancy’s The Division 2“ (Titelbild) schon mal: Gespenstisch leer liegen New York und Washington, D.C., da. Bio-Terroristen haben nämlich eine tödliche Seuche auf die Menschheit losgelassen. Wer Rehe beim Spaziergang durch das wuchernde Grün der Innenstädte aufschreckt, denkt unweigerlich an die Waliser Ziegen.
Die Geschichte des Spiels ist wirr. Diverse Sekten und Schurken tauchen auf, die man dann als Spieler im Auftrag der Vereinigten Staaten erschießen soll. Die Grundkonstellation wirkt wie ein Fiebertraum für Diktatoren: Die Zivilisation entpuppt sich als dünner Lack. Kaum ist er abgeblättert, fallen Menschen übereinander her. Nur die strafende Hand des Staates kann das Chaos bändigen.
Aber so deutlich wird das kaum gesagt. Die Erzählung steht im Hintergrund; im Vordergrund steht ein „Third-Person-Shooter“, also Schusswechsel über die Schulter der Spielfigur gesehen. Das Ballern macht Spaß, es gibt ein hohles Gefühl der Kontrolle. Doch Hunderte Menschen zu erschießen fühlt sich nicht wie eine Lösungsstrategie an – weder gegen eine todbringende Krankheit noch gegen andere Zukunftsprobleme.
„Endzone“ – Fischerhütten für den Frieden
Das Spiel „Endzone – A World Apart“ klingt noch einmal düsterer. Nach einem atomaren Super-GAU überwintert die Menschheit 150 Jahre unter der Erde. Doch das schlimme Schicksal wird schon im Intro-Video abgehakt. Gespielt wird das Auftauchen nach der Überwinterung, inszeniert als klassisches Aufbauspiel in der Tradition von „Anno“ und „Die Siedler“.
Wer die Klassiker kennt, der erlebt ein Déjà-vu. Wenn Spieler ihre ersten Ressourcen sammeln, Rollen verteilen und Hütten bauen, wirkt das vertraut, beruhigend. Schön sehen die Behausungen aus Schrott und Wellblech nicht aus, aber sie wachsen. Sogar die Fischerhütte, eine Art Running Gag des Genres, wird früh errichtet. Auch die Strahlenbelastung, die noch auf der Erde herrscht, ist mit der passenden Ausrüstung keine große Gefahr.Der Aufbauprozess wirkt so befriedigend wie das Errichten einer Modelleisenbahn. Dahinter steckt ein völlig anderes Menschenbild als in „Division“: Eine solidarische und friedliche Zukunft scheint hier immer noch möglich. Solange jemand lebt, so lange geht auch die Sonne wieder auf.
„Neo Cab“ – Letztes Taxi in Los Ojos
Eine Krise aus der Ich-Perspektive zeigt „Neo Cab“. Es ist eine Visual Novel, eine interaktive Erzählung, über die letzte menschliche Taxifahrerin in einer durchautomatisierten Metropole. Die Spieler steuern aber nicht das Auto, sondern sie entscheiden, wo die Heldin Lina Strom tankt, wer ihre Fahrgäste sind und was sie mit ihnen redet.
Die Geschichte dauert nur ein paar Stunden. Lina ringt mit ihrem Gefühlsleben, den Fahrgästen und dem Geld. Den Bezug kann wohl jeder herstellen, der schon einmal einen miesen Job und ein Loch im Konto hatte.
Das Leben in Los Ojos fühlt sich an wie eine plausible nahe Zukunft. Damit ist „Neo Cab“ einerseits beunruhigend. Es zeigt Zustände und gesellschaftliche Tendenzen, die es so ähnlich bereits gibt – von der Gig Economy bis zur Automatisierung. Die Botschaft dahinter ist allerdings produktiv: Entscheidend an jeder möglichen Zukunft ist, wie es den einzelnen Menschen darin geht. Der Hinweis taugt auch für Spieler, die hypnotisiert vom Strom der schlechten Nachrichten zu Hause kauern.
Fazit:
Geschichten können der Welt einen Sinn abringen. Spiele können weiter gehen – sie können die Welt simulieren. Indem sie schwierige Entscheidungen herausarbeiten, zwingen sie das Publikum zu einer Reaktion. Auf die Art kann ein Spiel wie „Neo Cab“ durchaus Mitgefühl auslösen, eine Versuchsanordnung wie „Endzone“ Hoffnung wecken. „The Division 2“ dagegen spielt nicht mit: Es zeigt sich desinteressiert an der eigenen Welt und reduziert sie zu einer beliebigen Action-Kulisse. So bleibt nichts zurück – außer Bildern, die nach dem Ausbruch einer echten Pandemie ziemlich geschmacklos wirken.
Titelbild: ubisoft