Wenn es so etwas gibt wie eine Taufe, eine rituelle Einführung in den geheimen Kult unseres Zeitalters, dann ist es das Bällebad. Wer jemals von seinen Eltern im Vergnügungspark, Schnellrestaurant oder Möbelhaus im Spielbereich geparkt wurde, der kennt die gepolsterten Becken voller bunter Bälle. Und wer sich jemals hineinstürzen durfte, wer das Klappern der freundlich ausweichenden Kugeln gehört und ihren matt süßlichen Duft eingeatmet hat – der wird dieses Glück dem Plastik niemals ganz vergessen.

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Der Radiorekorder. Liebhaberobjekt, aber eigentlich auch nur ein Stück Plastik (a nice idea every day)

Der Radiorekorder. Liebhaberobjekt, aber eigentlich auch nur ein Stück Plastik

(a nice idea every day)

Die magische Substanz, aus der noch heute so gut wie jedes Kinderspielzeug besteht, ist selbst als Spielzeug in die Welt gerollt – in Form einer Billardkugel, die als Versuch entstand, einen Ersatz für die herkömmlichen Kugeln aus dem knapper werdenden Elfenbein zu erfinden. Das, woraus wenig späterdas Zelluloid werden sollte, drohte allerdings immer wieder in die Luft zu fliegen. Die „New York Times“ schrieb dazu um 1870 herum ironisch: „Niemand kann beim Billardspiel echte Befriedigung verspüren, wenn er weiß, dass seine Kugeln in einer Serie dicht aufeinander folgender Explosionen detonieren, dadurch eine vielversprechende Partie verderben und die Spieler unter einem Trümmerhaufen aus Spieltisch und Queues begraben können.“Bewusst machen wir uns das nicht. Zwar wird unsere Zivilisation von Kunststoff zusammengehalten. Aber es ist, als schämten wir uns dieses Materials. Im vergangenen Jahrhundert erlebten wir angeblich den Wechsel vom Atomzeitalter zum Informationszeitalter. Tatsächlich sind beides nur Kapitel einer Ära, die eines fernen Tages, wenn sie vorbei ist, genauso gut das „Plastikzeitalter“ genannt werden könnte. Und es wird so würdig und endgültig klingen wie Steinzeit, Eisenzeit oder Bronzezeit. Schließlich ist es das, wonach Alchemisten jahrhundertelang gesucht haben: Ein Material so vielseitig, dass es jede beliebige Form annehmen und jede beliebige Funktion erfüllen kann.

Kein anderes Material verkörpert so sehr das Prinzip des Konsums

Das Produkt setzte sich also zunächst nicht durch, weil Manschetten, Zahnersatz oder Knöpfe aus Zelluloid immer wieder in Flammen aufgingen. Segensreicher erschien den Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts der Kunststoff Bakelit, durch den etwa in Fabriken viele elektrische Leiter isoliert werden konnten, wodurch Explosionen und Feuern vorgebeugt wurde.

Seit einem Jahrhundert begleitet das Plastik den ebenfalls sich entfaltenden Kapitalismus wie ein fortwährend sich wandelndes, alle Bereiche des Lebens durchdringendes Pokémon. Tatsächlich verkörpert Plastik wie kein anderes Material das Prinzip des Konsums. Es ist günstig in der massenhaften Herstellung, von unverwüstlicher Qualität – doch so schnell „entsorgt“, wie es der ewige Wettlauf aus Erwerb und Verbrauch verlangt. Dabei nahm das Plastik so verschiedene Formen und Funktionen an, dass es mühelos ganze Industrien entstehen oder untergehen ließ.

Man denke nur an die Vinylschallplatte und ihre magische Fähigkeit, auf Abruf Stimmen und Musik wiederzugeben. Die Schallplatte ist von ihren Liebhabern längst mysthisch überhöht, im Grunde aber auch „nur“ ein Stück besonders schnödes Plastik gewesen, nämlich Polyvinylchlorid, kurz PVC, mit dem wir auch Fußböden auslegen. Trotzdem wären Plattenindustrie und Popkultur ohne dieses synthetische und recht billige Produkt kaum denkbar.

Entwickelt, um Soldaten die Brummtöne von U-Booten vorzuspielen

Als Vater vieler Dinge hatte hier natürlich auch der Krieg seine Hände im Spiel. Die moderne Schallplatte mit ihrer ungeheuren Frequenzbreite wurde entwickelt, um Soldaten zu Übungszwecken sehr tiefe Brummtöne vorspielen zu können. Nur so konnten sie lernen, das Geräusch der Dieselmotoren abgetauchter deutscher U-Boote von den eigenen Submarines zu unterscheiden. Transparentes, biegsames und splitterfreies Plexiglas gab es schon seit 1933, erlebte seinen Durchbruch aber erst in Form kuppelförmiger Fenster für die Bordschützen von Bombern im Zweiten Weltkrieg und wird heute vornehmlich von Optikern als sicheres Brillenglas verkauft.

Und kurz nachdem der Chemiekonzern DuPont das Nylon erfunden und 1939 auf der New Yorker Weltausstellung präsentiert hatte, wanderte die komplette Produktion in die Herstellung von Fallschirmen. Nicht wenige Frauen malten sich daher die entsprechenden Nähte auf die Beine, damit es wenigstens auf den ersten Blick zu aussah, als trügen sie Strümpfe aus Nylon. Kaum hatte Japan kapituliert, kam es vor Geschäften zu Tumulten, weil der Konzern mit seiner Produktion die Nachfrage nach echten Nylonstrümpfen nicht befriedigen konnte.

So sickerte nach dem Krieg in den zivilen Alltag und den Warenkreislauf, was für den Krieg entwickelt worden war. Nicht „die Raumfahrt“, wie es gerne heißt, sondern die Hersteller des Nylons beispielsweise entdeckten auch das Teflon. Ein wackeres Polytetrafluorethylen, an dem kaum eine andere Substanz haften bleibt. Deshalb konnte es sogar den extrem aggressiven Chemikalien trotzen, mit denen es US-Wissenschaftler bei der Anreicherung von Uran für ihre erste Atombombe zu tun hatten. Später diente es als Beschichtung von Angelschnüren, Töpfen und Pfannen. Was das Teflon zu einem Material macht, das bei der Herstellung von Massenvernichtungswaffen ebenso hilfreich sein kann wie beim Brutzeln eines leckeren Schnitzels.

Bis weit in die 50er-Jahre hinein hatte das Plastik die Welt bereits erobert, blieb aber noch ganz gut getarnt – einfach deswegen, weil es vielleicht ein faszinierend futuristisches Material war, an Sinnlichkeit oder wenigstens optischer Strahlkraft jedoch noch zu wünschen übrig ließ. Unschätzbare Arbeit leistete hier Earl Silas Tupper, der im Zweiten Weltkrieg noch Gasmaskenteile für das Militär herstellte, danach aber mit seinen praktischen Dosen aus Polyethylen die üblichen Stoffe wie Holz, Porzellan oder Glas aus der Küche verdrängte. Er setzte dabei auf Hausbesuche, ganze Nachbarschaften einbeziehende Verkaufspartys und eine starke emotionale Bindung zur Kundschaft. Und so war es die beliebige Formen und Farben annehmende, fast unzerstörbare und doch günstige Tupperware, die das Bild der praktischen, sorgenden, allem Neuen aufgeschlossenen Hausfrau der 50er-Jahre prägte.

„I want to be plastic“

Von der Bohème wurde das Plastik anders wahrgenommen als vom traditionsbewussten Bürgertum – viel euphorischer nämlich. Andy Warhol veranstaltete in den 60er-Jahren in New York und San Francisco multimediale Kulturspektakel unter dem Namen „Exploding Plastic Inevitable“ und verkündete: „I want to be plastic“. Er hatte erkannt, dass Plastik in seiner Künstlichkeit und Oberflächlichkeit eine schöne Allegorie auf die entstehende Popkultur ist.

In den 60er-Jahren explodierte das Plastik tatsächlich unausweichlich in alle nur denkbaren Leben- und Konsumwelten hinein. 1967 stellte der dänische Designer Verner Panton den elegant geschwungenen„Panton Chair“ vor, die erste Sitzgelegenheit aus Vollkunststoff und ohne traditionelle Werkstoffe. Die völlig identischen, glatt glänzenden und in Serie hergestellten Stühle unterschieden sich nur anhand ihrer Farbe, wie Panton überhaupt ganze Räume psychedelisch einfärbte – vom Boden bis zur Decke, von Wandpaneelen über Lampen und Möbel bis zu Teppichen. Es war, als hätte jetzt erst jemand der Welt Farbe beigemischt, als würden sich die Gebrauchsgegenstände plötzlich in verheißungsvolle Botschafter einer egalitären Zukunft verwandeln. „Und so“, schrieb der französische Philosoph Roland Barthes wohlwollend, „ist die Hierarchie der Substanzen abgeschafft – eine einzige ersetzt sie alle“.

Wüste statt Plastik

Während aber Philosophen noch jubelten und sich selbst die Blumenkinder dem synthetischen Farbenrausch hingaben, notierte der Schriftsteller Norman Mailer bereits 1964 im Magazin „Esquire“ mürrisch über sein modernes Hotelzimmer: „Die Teppiche und Tapeten, die Vorhänge und die Tischplatten waren aus Plastik, im Badezimmer roch es nach brennenden Insektenvertilgungsmitteln.“ Und 20 Jahre später, auf dem Höhepunkt der „Jute statt Plastik“-Bewegung, fügte er hinzu: „Ich glaube, es gib im Universum eine böse Kraft, sie ist das soziale Äquivalent von Krebs, und sie ist das Plastik.“

Schon 1962 hatte der Arzt Theron G. Randolph nachgewiesen, dass zahllose Krankheiten auf die alltäglich Verwendung synthetischer Substanzen zurückzuführen seien. In den 60er-Jahren bildeten sich sogar erste Kommunen chemisch sensitiver Menschen, die vor der Synthetik in die Natürlichkeit der Wüste flohen.

Plastik ist oft dort kulturell am wirksamsten, wo es den Alltag erleichtert – wie der simple Plastikeimer, der in Afrika dazu beigetragen hat, dass etwa die Menschen das Wasser nicht mehr nur in schweren Tonkrügen auf ihrem Kopf vom Fluss ins Dorf transportieren mussten. Allgegenwärtig ist das Zellglas, bekannt unter dem Begriffsmonopol Cellophan, das Produkte nahezu luftdicht verpackt und dem Verbraucher zugleich den kleinen Zauber gönnt, etwas Frisches zu öffnen – so wie kaum ein elektronisches Gerät mehr ohne schützende Hülle aus Styropor verkauft wird. Allgegenwärtig auch die bedruckte, transparente oder reißfeste Plastiktüte als ultimatives Individualtransportmittel für Waren, die zugleich doch selbst eine Massenware ist.

Plastik steht überhaupt wie kein anderes Material für den Kunststoffwechsel des Kapitalismus, der Bürger nicht ohne Grund als „Verbraucher“ anspricht und eben kein Interesse an Recycling oder einem Kreislauf haben kann. Um den Stellenwert – und unsere Abhängigkeit – von Plastik heute zu ermessen, müssen wir nicht nach Satelliten im All spähen, uns von Elektrotechnikern Halbleiter aus Polyacetylen erklären lassen, Teilchenbeschleuniger besuchen oder Computerprozessoren aus Kunststoff bestaunen: Es genügt, uns selbst anzuschauen. Brille, Zahnersatz, Hörgeräte, Prothesen, Brustimplantate, Herzklappen, Gelenke – alles Kunststoff. Wir können nicht mehr zurück, selbst wenn wir es wollten.

Arno Frank ist arbeitet als Korrespondent der „taz“ und schreibt als freier Kulturjournalist unter anderem für die „Zeit“, „Spiegel Online“ und „Neon“.