Nicht besonders reich, mit schlechten Zähnen und ziemlich alt. So stellt sich die simbabwische Schriftstellerin Petina Gappah den schottischen Missionar und Forschungsreisenden David Livingstone vor, der Mitte des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Afrikareisen aufbrach und mit seinen Büchern das Bild eines Kontinents beeinflusste. In ihrem Roman „Aus der Dunkelheit strahlendes Licht“ lässt Gappah auch Afrikanerinnen und Afrikaner zu Wort kommen, die Livingstone auf seiner Suche zu den Quellen des Nils begleiteten. „Unter diesen Helfern war eine Frau, die sich ununterbrochen über ihn lustig machte“, erzählte Petina Gappah bei einer Podiumsdiskussion über die Recherche für ihr Buch. „Sie sagte zu Livingstone: ‚Bist du verrückt? Warum in Gottes Namen rennst du durch die Gegend und suchst nach dem Ursprung eines Flusses, der schon immer da war und immer noch da sein wird, wenn du schon lange unter der Erde liegst?‘“
Männer wie Livingstone haben über Jahrhunderte das Bild der Europäer von Afrika geprägt – und den Eindruck erweckt, die Geschichte des Kontinents habe erst mit ihrer Ankunft dort begonnen. Was nicht von europäischen „Entdeckern“ bereist, beschrieben und kartografiert war, gab es nicht – so das damalige Denken vieler Männer, die europäische Geschichtsbücher schrieben. Den einheimischen Menschen wurden so oft auch ihre geistigen Fähigkeiten abgesprochen, ihr Wissen, ihre Meinungen, Geschichten und Traditionen, die weder gehört noch ernst genommen wurden. Was lange Zeit fehlte, waren afrikanische Sichtweisen, die selbst in afrikanischen Geschichtsbüchern oft ausgelassen werden.
„Da läuft dieser Mann durch die Gegend und gibt afrikanischen Orten Namen – obwohl sie bereits Namen haben“
Genau das aber wollen Schriftstellerinnen aus Afrika wie Petina Gappah ändern, indem sie zeigen, dass Geschichte aus Sicht der Europäer längst nicht die ganze Wahrheit ist. Genau deshalb schreiben sie historische Romane, in denen die Erfahrungen und Sichtweisen der Menschen in Afrika eine zentrale Rolle spielen. „Ich wollte mir aus der Absurdität von Livingstones Forschungsreise einen Spaß machen“, sagt Gappah. „Da läuft dieser unglaublich egoistische Mann durch die Gegend und gibt afrikanischen Orten Namen, obwohl sie bereits Namen haben.“
Der kenianische Literaturwissenschaftler Oduor Obura ist am Ufer von Afrikas größtem Süßwassersee aufgewachsen, der 1858 von einem anderen britischen Reisenden nach der englischen Königin Victoria benannt wurde. Diesen Namen trägt der See bis heute. „Dabei haben die Ethnien, die um den See herum leben, schon lange vorher eigene Namen für ihn gehabt“, sagt Obura. Bei den Luo zum Beispiel, zu denen Obura gehört, heiße das Gewässer Nam Lolwe. „Leider lernen wir das nicht in der Schule. Auch dort beginnt die Geschichte Kenias mit der Ankunft der Europäer, und wir sehen uns selbst durch eine europäische Brille.“
Afrika seine eigene Geschichte abzusprechen hat eine lange Tradition. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel behauptete im 19. Jahrhundert, dass Afrika kein historischer Kontinent sei und es weder Entwicklung noch Bildung gebe. Und als die Europäer dort ein Bildungssystem etablierten, zementierten sie diese Sichtweise – die selbst nach dem Ende des Kolonialismus Bestand hatte – in den Lehrplänen.
Noch heute, 57 Jahre nach der Unabhängigkeit Kenias von britischer Kolonialherrschaft, wird in den Geschichtsbüchern selbst der transatlantische Sklavenhandel, in dessen Zuge schätzungsweise zwölf Millionen Menschen innerhalb von 400 Jahren verschleppt wurden, nur kurz abgehandelt. Die Zahl der Opfer bleibt unerwähnt. Kein Wort auch zu den muslimischen Sklavenhändlern, die schon vor den Europäern Millionen Menschen verschleppten, oder über die wissenschaftlichen Forschungen früherer afrikanischer Völker. Dass es in Afrika bereits im 14. Jahrhundert Zentren der Forschung und Gelehrsamkeit gab – auch darüber erfahren die Schülerinnen und Schüler an kenianischen Gymnasien nichts.
„Die Rolle von Afrikanerinnen und Afrikanern als Schöpfer ursprünglicher Kulturen, die Jahrhunderte überdauert haben, wird übersehen“, sagt die kenianische Bildungswissenschaftlerin Mary Nasibi. „Man fragt sich, wie junge Menschen aus Afrika ihren Platz in der Welt finden sollen, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennen.“
In Afrika gab es schon vor der Ankunft von Europäern Forschung und Wissen
Für den kenianischen Historiker Babere Chacha ist diese Form der Geschichtsvermittlung für die Regierung eine Form des Machterhalts. „Sie hat Angst davor, dass die jungen Menschen zu viel über ihre Geschichte lernen, auch vom Widerstand gegen Unterdrückung, und sich so radikalisieren“, sagt er. Vor einigen Jahren wurde sein Berufsverband vom Erstellen von Lehrplänen ausgeschlossen. „Wir hatten uns gegen diese oberflächliche Geschichtsdarstellung gewehrt.“
Schriftstellerinnen haben es da leichter – sie schreiben einfach Bücher über historische Ereignisse wie die in Ghana geborene Yaa Gyasi. In ihrem Roman „Heimkehren“ setzt sie sich mit der Geschichte der Sklaverei auseinander und beschreibt das Leben von Zwillingsschwestern von der Goldküste (heute Ghana), deren Leben sehr unterschiedliche Verläufe nehmen. Die Schicksale der Nachkommen der beiden Frauen zeigen, wie verheerend die Auswirkungen der Sklaverei auch noch über mehrere Generationen hinweg sind. Auch die bekannte nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie hat sich mit der Historie ihres Heimatlandes beschäftigt. In „Die Hälfte der Sonne“ erzählt sie die Geschichte des Biafrakrieges 1967 bis 1970, in dem Hunderttausende verhungerten, aus der Perspektive einer nigerianischen Familie.
International vernetzte Autorinnen wie Petina Gappah, Yaa Gyasi und Chimamanda Ngozi Adichie recherchieren den Stoff ihrer Romane in historischen Quellen, die nicht zuletzt in Archiven und Museen in Europa und Amerika aufbewahrt werden. „Wir können Dinge ans Licht bringen, sie exhumieren, wir können Ansprüche erheben. Historische Fiktion ermöglicht uns, die Geschichte aus der Sicht ganz kleiner Leben zu betrachten“, sagt Gappah.
Doch auch in den Archiven spiegelt sich das Ungleichgewicht europäischer und afrikanischer Erzählungen wider. So fand die äthiopische Schriftstellerin Maaza Mengiste, die für ihr Buch über die Rolle der Frauen im Widerstand gegen die Invasion der italienischen Armee in Äthiopien in den 1930er-Jahren recherchierte, in den italienischen Archiven hauptsächlich Propagandamaterial, das aus der Zeit des italienischen Diktators Mussolini stammt. Es sei nicht einfach gewesen, die Rolle der äthiopischen Frauen zu erforschen. „Diese Geschichte war versteckt.“ Mengiste hat sie dennoch gefunden. „Wir müssen die Menschen zurückgewinnen, die nicht mehr leben“, sagt sie. „Diese Verantwortung haben wir gegenüber der zukünftigen Generation.“