Als ich anfange, diesen Text zu schreiben, befindet sich mein Smartphone in sicherer Distanz. Es liegt im Badezimmer, weil ich meiner Willenskraft misstraue. Wie oft ich sonst meinen Newsfeed aktualisieren würde, nur um festzustellen, dass nichts Neues passiert ist, seitdem ich vor nicht mal einer halben Stunde da war. Jetzt also liegt mein Suchtmittel im Dunkeln, zwischen Zahnbürste und Feuchtigkeitscreme. Es ist das Ende meines Versuchs, Abstand zwischen mich und mein liebstes Endgerät zu bringen.
Wie so viele andere bin ich seit einem Jahr die meiste Zeit zu Hause. Meine Tagesstruktur wird durch minimale Aufmerksamkeitsverschiebungen bestimmt: Ich switche zwischen Smartphone, Tablet und Laptop. Der Lockdown kommt mir vor wie eine exklusive, nie endende Party für mich und meine Bildschirme. Draußen dreht pandemiebedingt die Welt durch. Drinnen liegt mein Handy sicher in meiner Hand. Meine tägliche Bildschirmzeit verdoppelt und verdreifacht sich. Damit bin ich nicht allein. Seit Beginn der Pandemie verbringen Jugendliche und Erwachsene in Europa täglich bis zu 65 Prozent mehr Zeit vor Bildschirmen. Dafür sind nicht nur der digitale Schulunterricht und das Homeoffice verantwortlich. Auch in der Freizeit ist die Nutzung drastisch gestiegen. Auf Twitter kursieren unter #screentime immer mehr Screenshots von exzessiven Nutzungszeiten am Handy. Welcome to the „New Normal“, der Ära, in der wir kollektiv die digitale Kontrolle verloren haben?
„Spätestens seit Corona ist das Smartphone das Erste, was ich morgens in die Hand nehme, und das Letzte, was ich abends aus der Hand lege“
Schon vor Corona, im Jahr 2019, verbrachten Europäer:innen viel Zeit mit ihren Smartphones: im Schnitt vier Stunden täglich, Tendenz steigend. Bei mir ist es das Erste, was ich morgens in die Hand nehme, und das Letzte, was ich abends aus der Hand lege. Das war aber nicht immer so. Über die letzten Monate hinweg haben sich Gewohnheiten in meinen Alltag eingeschlichen, die mir selbst nicht gefallen: Auf einem Spaziergang mit einer Freundin erwische ich mich dabei, wie ich in unbeobachteten Momenten immer wieder versuche, mein Handy aus der Manteltasche zu ziehen, um zu überprüfen, ob irgendwas passiert ist in den letzten Minuten.
„Das nervt“, kommentiert meine Freundin. Die unmittelbare Anwesenheit meines Smartphones versetzt mich in einen permanenten Modus der geteilten Aufmerksamkeit. Ich kann nicht mehr zuhören. Ständig diese Unruhe, die sofort weicht, wenn ich über die glatte Oberfläche streiche. Sind das noch komische Gewohnheiten, oder bin ich schon smartphonesüchtig?
Für den in New York City lehrenden Psychologen und Marketingprofessor Adam Alter wäre der Begriff „Sucht“ wahrscheinlich angemessen. In seinem Buch „Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit“ lese ich, dass nicht nur Substanzen wie Drogen oder Alkohol süchtig machen können. Auch Verhaltensweisen können das schaffen – wenn sie ausreichend belohnend für uns sind: Gaming, Serienbinging, Onlineshopping oder Social Media würden von immer mehr Menschen auf schädigende Weise exzessiv betrieben. Die Vernachlässigung von sozialen Kontakten, Entzugserscheinungen, Nervosität und Reizbarkeit können zu den Folgen der sogenannten „Internetsucht“ gehören. Menschen werden aber nicht nach dem Smartphone an sich oder dem Medium „Internet“ süchtig – sondern nach der jeweiligen Aktivität, die sie online ausüben. Bisher hat es nur die „Onlinespielsucht“ in den von der WHO herausgegebenen Diagnosekatalog für Krankheiten (ICD-11) geschafft.
Die Internetsucht gibt es also nicht. Ich bin süchtig nach der perfekten Mischung aus Social Media, ein paar Kommunikationsapps und einem nie endenden Newsfeed. Oft liege ich abends im Bett, greife nach dem iPhone auf meinem Nachttisch, um den Wecker zu stellen – und verliere mich im Facebook- oder Instagram-Feed. In der Sekunde, in der ich den Bildschirm entsperre, scheint mein Gehirn in einen Zustand hochkonzentrierter Zerstreuung zu switchen. Ich liebe die mit dem iPhone verbrachte Zeit – und hasse sie gleichzeitig sehr.
„Auf einem Spaziergang geht plötzlich mein Handy aus. Ein neues Gefühl stellt sich ein. Ist das etwa JOMO, die ‚Joy of Missing Out‘?“
Ist es nur meine individuelle Willenskraft, die zu schwach ist, um den täglichen digitalen Verlockungen zu widerstehen? Ich bin beruhigt, als ich erfahre, dass die meisten Menschen täglich Rückschläge in ihrer digitalen Selbstkontrolle erleben. Wer sich einfach nur vornehme, ab heute weniger aufs Smartphone zu schauen, komme selten ans Ziel, sagen viele Forscher:innen. Denn plötzliche Impulse können so mächtig sein, dass selbst die beste Absicht keine Chance hat. Vielleicht sollte ich mein Smartphone einfach loswerden? Sosehr ich mit einem radikalen kalten Entzug liebäugle, muss ich mir eingestehen: Zu sehr bin ich auf das Handy angewiesen – gerade in diesen Zeiten.
Ich höre von Apps, die Menschen dabei helfen sollen, weniger Zeit mit dem Smartphone zu verbringen. Die Vorstellung, mein „Tech-Problem“ mit „Tech“ zu lösen, gefällt mir, deswegen probiere ich einfach drei der zahlreichen Angebote aus: Die Apps habe ich zufällig ausgewählt, es gibt viele Alternativen. Aber irgendwo muss man ja anfangen.
„Pflanz einen Baum und erledige deine Sachen“ (Forest App)
Als ich Forest zum ersten Mal öffne, wird eine zarte Pflanze auf meinem Handy visualisiert. „Pflanze einen Baum und erledige deine Sachen“, steht darüber. Was für eine Ansage. Die App verlangt von mir, einen Timer zu stellen. 25 smartphonefreie Minuten kommen mir für das Erste realistisch vor. Start. Der Countdown läuft. Laut App befinde ich mich im „Plant Mode“, durch den ich Tiefenfokus erreichen soll. Solange ich während des Countdowns keine anderen Apps auf dem Handy öffne, wächst mein digitales Bäumchen. Ansonsten stirbt es. Je mehr Zeitslots ich mit Forest vereinbare, ohne das Handy zu benutzen, desto größer wird mein Wald. „Süß“, findet eine Freundin, als ich ihr Forest auf einem Corona-Spaziergang durch den Park zeige. Wir schauen zusammen fasziniert dem kleinen digitalen Baum dabei zu, wie er wächst. Die analogen Bäume um uns herum würdigen wir keines Blicks.
Nehme ich das Smartphone in die Hand, während der Countdown läuft, kommuniziert Forest in Appellen mit mir: „Schau mich nicht so an“, „Bleib konzentriert“, „Leg dein Handy aus der Hand“. Unter Forest verwandelt sich mein Smartphone in eine Gouvernante. Leider beginne ich nach zwei Tagen, mich an das sterbende Bäumchen zu gewöhnen. Am Ende der Woche ist mein digitaler Wald verdorrt.
Eine Freundin zeigt mir ihre durchschnittliche Bildschirmzeit: elf Stunden, am Tag
„Würdest du sagen, dass du eine problematische Beziehung zu deinem Smartphone hast?“ wird zu meiner Standardfrage, die ich meinen Freund:innen nach einer Woche Selbstexperiment an den Kopf werfe. Die meisten bejahen. Eine Freundin zeigt mir Screenshots ihrer durchschnittlichen Bildschirmzeit der letzten Woche: elf Stunden. Jeden Tag.
Ich stoße auf Bücher wie „Digital Minimalism“ (Cal Newport), „Indistractable: How to Control Your Attention and Choose Your Life“ (Nir Eyal) oder „How to Break Up with Your Phone: The 30-Day Plan to Take Back Your Life“ (Catherine Price). Ganze Regale ließen sich füllen mit den Büchern, die helfen wollen, vom Bildschirm wegzukommen. Der erste Schritt für die DIY-Therapie lautet immer: Die Notifications deaktivieren! Weil sie als sogenannte „externe Trigger“ zu den Auslösern gehören, die mich neben den „internen Triggern“ (wie Langweile oder negative Gedanken) dazu motivieren, zum Handy zu greifen. Kommt mir logisch vor. Je mehr ich mich jedoch mit den psychologischen Erklärungsansätzen hinter meinem Verhalten beschäftige, desto deutlicher wird: Die Mechanismen hinter der „Smartphonesucht“ sind komplex. Klar: Sucht entsteht im Gehirn, das empfänglich für Belohnungen ist. Tun wir Dinge, die Spaß machen, wird hier der Neurotransmitter Dopamin freigesetzt, der uns in einen Zustand freudiger Erregung versetzt. Wir lernen, das spezifische Verhalten mit Belohnung zu assoziieren. Weshalb wir es wieder und wieder und wieder ausführen wollen.
Die Smartphonesucht ist von den Apps gewollt: Wir sollen den Produkten verfallen
Die Netflix-Doku „Das Dilemma mit den sozialen Medien“ zeigte vergangenes Jahr, mit welchen Strategien die sozialen Medien unser Verhalten steuern. Eine prominente Stimme in der Doku ist der ehemalige Google-Ethiker Tristan Harris. Harris, der 2013 die NGO „Center for Humane Technology“ gegründet hat, prangert an, dass Tech-Firmen ihre digitalen Produkte so perfektioniert haben, dass sie unsere Dopaminreaktionen gezielt manipulieren. Wir können und sollen gar nicht anders, als den Produkten zu verfallen. Je mehr Zeit wir mit Facebook oder Instagram verbringen, desto höher fallen die Profite der Plattformen aus, die sich zum Großteil über personalisierte Werbung finanzieren.
Für Harris, der sich eine „Humane Technology“ wünscht, die menschliche Aufmerksamkeit mithilfe ihres Designs nicht mehr ausbeutet, ist das heutige Smartphone ein kleiner, süchtig machender Spielautomat für die Hosentasche: Er belohnt uns immer mal wieder, aber eben nicht bei jedem Ziehen am Spielhebel. Wenn wir schauen, ob wir nicht doch eine Nachricht erhalten oder einen Like gewonnen haben, ist das nichts anderes als eine normale Reaktion auf das unvorhersehbare Belohnungsprinzip. (Schließlich könnte es ja sein, dass …?) Aus der psychologischen Forschung ist seit langem bekannt, dass diese variable Belohnungsschleife Menschen, aber auch Tiere dazu bringt, Verhaltensweisen exzessiv zu wiederholen. Wir können also gar nicht anders, als immer wieder das Handy aus der Hosentasche zu nehmen.
Ein weiteres Problem beschreibt Professor Alter: „Die moderne Technologie hat uns der Stoppsignale beraubt.“ Damit meint er kleine Hinweise, die uns nach einer Weile darauf aufmerksam machen, dass nach zwei Stunden Tab-Browsen oder WhatsApp-Chatten vielleicht auch mal ein Ende erreicht ist. „Ausgelesen“ ist hier nie. Bei einer gedruckten Zeitschrift könne man innehalten und überlegen, was man jetzt gerne anderes tun möchte. Smartphones und viele Apps sind nur leider nicht dazu entwickelt worden, uns gelegentlich in unserem Tun zu unterbrechen. Also teste ich als Nächstes eine Selbstkontroll-App, die mir diese Stoppsignale zurückgibt: Space.
„Oh, it’s you again. Do you need to be here?“ (Space App)
Die App visualisiert, wie viel Zeit ich täglich mit dem Smartphone verbringe (im Schnitt 4,5 Stunden) und wie häufig ich es entsperre (heute 58-mal. Wow!). Space fragt mich, wie die neue Beziehung zu meinem Smartphone aussehen soll – und meint damit Zahlen. Ich erlaube mir 1,5 Stunden Bildschirmzeit und 30 Entsperrungen am Tag. „Was sind deine typischen Verhaltensmuster?“, fragt mich die App in einem Quiz. Space findet, dass ich zur Kategorie „Boredom Battler“ gehöre: „Du nimmst das Handy in die Hand, um Zeit zu füllen.“ Wahrscheinlich hat die App recht. Mir gefallen der Humor und die Sprache, mit der diese App mit mir „spricht“.
Sobald ich in dieser Woche das Smartphone entsperren will, erscheinen kleine Benachrichtigungen: „Oh, it’s you again. Do you need to be here?“ Die App schreitet ein, sobald ich meine selbst gewählten „Limits“ überschreite. Mir hilft das: Nach ein paar Tagen verbringe ich weniger als eine Stunde pro Tag am Handy.
Doch dass Space meinen Standort trackt, ist nicht nur datenschutzrechtlich bedenklich. Es hat auch Folgen für meinen Akku. Auf einem längeren Spaziergang geht plötzlich mein Handy aus. 1:0 für die App. Mit dem toten Handy in der Hand laufe ich durch den Park und betrachte meine Umgebung: Viele Spaziergänger:innen telefonieren oder schauen aufs Smartphone. Ich schaue ihnen lächelnd ins Gesicht. Es stellt sich ein neues Gefühl ein. Ist das etwa JOMO, die „Joy of Missing Out“?
Am Ende dieser Woche bemerke ich, dass ich mein Smartphone anders wahrnehme – und mich ebenfalls. Greife ich danach, denke ich: „Muss das jetzt sein?“ Die Stimme der App scheint in mich übergegangen zu sein. Außerdem kaufe ich mir einen Digitalwecker. Zum ersten Mal seit langer Zeit liegt das Handy nachts nicht mehr auf meinem Nachttisch, sondern im Flur. Komplett ausgeschaltet. Ich fühle mich bereit für die letzte Woche meines Selbstversuchs – und die strengste der drei Apps: Freedom.
„Seite kann nicht geöffnet werden“ (Freedom App)
Die Anwendung blockiert ausgewählte Apps und Websites für bis zu 24 Stunden komplett. Die App ist das, was einem kalten digitalen Entzug am nächsten kommt: drastisch! Nachrichtenseiten, Facebook und Instagram sind in der letzten Zeit meine Top-3-„Rabbitholes“. Ich starte die Session. 24 Stunden bin ich frei. Am nächsten Tag schaue ich nur noch aufs Handy, um nach der Zeit zu sehen. Weil ich alle Nachrichtenseiten gesperrt habe, erfahre ich als eine der Letzten von dem Sturm auf das US-Kapitol.
Sonst läuft die Woche gut. Ich werde Fan der App und muss an einen Satz aus Alters Buch denken, der das Prinzip dahinter gut zusammenfasst: „Eine Umgebung voller Versuchungen wird Sie in Versuchung bringen; entfernen Sie die Versuchungen aus der eigenen Reichweite und Sie werden versteckte Reserven an Willenskraft entdecken.“ Mit dieser App habe ich meine digitalen Verlockungen einfach abgeschafft.
Meine Erfahrungen radikalisieren mich. Zum Ende meines Selbstversuchs wird es zu meinem höchsten Ziel, mein Smartphone in ein so langweiliges Funktionstool zu verwandeln, dass der ständige Griff zum Handy uninteressant wird. Ich lösche alle Social-Media-Apps – und bin nicht mal traurig. In meiner Wohnung bewahre ich mein Smartphone nicht mehr in meinem Zimmer auf. Die meiste Zeit liegt es im Flur, oder ich verstecke es in Küchenschränken oder im Bad. Nach diesen drei Wochen hat sich die Beziehung zu meinem Smartphone grundlegend geändert.
Bin ich geheilt? Zumindest ist meine digitale Selbstkontrolle zurück. Geholfen haben mir nicht nur die Apps. Zum ersten Mal habe ich mich wirklich gefragt: Was mache ich eigentlich die ganze Zeit am Handy? Wann und warum greife ich zum Gerät? Wie machen es die anderen? Die wichtigste Erkenntnis war: Ich muss mich nicht für meine vermeintlich schwache Willenskraft fertigmachen, wenn ich mich wieder nach meinem Feed sehne. Vielleicht sollte ich für mein Verlangen eher das Design der digitalen Anwendungen und damit die Tech-Industrie verantwortlich machen.
Bis die sich aber fundamental ändert und Produkte entwickelt, die uns weniger süchtig machen, liegt es an uns, einen möglichst gesunden Umgang zu entwickeln. Die Apps können dabei helfen – eine gesunde Einstellung aber auch: JOMO statt FOMO, sage ich mir seither, lege das Smartphone in den Badezimmerschrank – und freue mich doch heimlich auf den Moment, wenn ich es wieder rausholen kann.