Fluter: Die meisten Flüchtlinge nehmen aktuell Länder wie Pakistan, Libanon, Iran und die Türkei auf. Deutschland nimmt im Vergleich viel weniger Flüchtlinge auf, besonders im Verhältnis zu seiner Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft. Trotzdem gibt es hier eine große Debatte.
Jochen Oltmer: Wir haben es auch hier mit einer starken Zuwanderung von Flüchtlingen zu tun. Ohne Zweifel ist das eine Herausforderung. Aber wir müssen uns vor Augen halten, dass Europa entgegen dem öffentlichen Eindruck von der Flüchtlingszuwanderung heute sogar relativ weniger stark betroffen ist als noch vor wenigen Jahren. 2003 lag der Anteil der Industrieländer an den globalen Fluchtbewegungen noch bei 70 Prozent, heute aber sind die Flüchtlinge zu 86 Prozent in Entwicklungsländern unterwegs, Europa ist im globalen Maßstab nur peripher betroffen.
Eigentlich hat Deutschland mit Flüchtlingen doch gute Erfahrungen. Es heißt, das Wirtschaftswunder wäre ohne die Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten nicht möglich gewesen.
Die haben in der Tat einen erheblichen Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Bundesrepublik und auch der DDR geleistet. Sie waren qualifiziert und mobil. Gerade diese Bereitschaft, den Ort zu wechseln, die Migration nach der Zwangsmigration, war ein ganz zentrales Element. Das sieht man konkret daran, wer die Städte wiederaufgebaut hat. Das waren vielfach Handwerker, die aus der Gruppe der Flüchtlinge kamen und die bereit waren, in den zerstörten Städten in Baracken zu wohnen und den Aufbau zu erledigen.
Wie ausgeprägt war damals das, was wir heute Willkommenskultur nennen?
Die Aufnahme lief sehr konfliktreich. Die Statistiken gehen davon aus, dass 1950 12,5 Millionen Menschen als Flüchtlinge und Vertriebene galten. Für die Nachkriegsgesellschaften war das eine sehr große Herausforderung, die als beinahe nicht zu bewältigen verstanden wurde. Es gab starke Konflikte um knappe Güter wie Wohnraum und Lebensmittel. Es ging aber auch um die Frage der politischen Teilhabe, die den Flüchtlingen anfangs verwehrt wurde. Anders als die Zeitgenossen 1949 erwartet haben, gelang es mit dem Ausbau der Wirtschaft, dass viele Flüchtlinge gut und rasch integriert wurden. Ab Mitte der 1950er-Jahre war da eine sehr klare Entspannung auszumachen.
Tun sich die Deutschen besonders schwer mit der Integration von Flüchtlingen?
Das glaube ich nicht. Dass es Vorbehalte gegen Flüchtlinge gibt bis hin zu Rassismus, lässt sich immer wieder und überall auf der Welt beobachten. In der Nachkriegszeit herrschte allerdings ein riesiges Unverständnis. Diejenigen, die kamen, wurden nicht als Deutsche anerkannt, sondern als Menschen aus dem Osten, und das war mindestens verdächtig – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der NS-Propaganda. Hier haben wir es mit Phänomenen zu tun, die immer wieder auftreten, wenn es um Migration geht. Dieser Prozess der gegenseitigen Anpassung, der Aushandlung von Teilhabe, ist sehr langwierig. Es dauert teilweise bis in die dritte Generation, bis Zuwanderer als zugehörig verstanden werden.
In Berlin ist man sehr stolz auf die aus Frankreich im 17. Jahrhundert zugewanderten Hugenotten. Täuscht der Eindruck, oder ging da die Integration leicht und schnell?
Der Eindruck täuscht. Die Obrigkeiten gingen davon aus: Diese Menschen nutzen der Gesellschaft, dem Staat und der Wirtschaft. Deshalb gab es eine positive Grundstimmung und ganz explizit Unterstützung. Die Hugenotten bekamen ganz spezifische Rechte zugestanden: Steuerfreiheit und Bürgerrecht in Städten. Konfliktfrei lief es aber trotzdem nicht. Viele Einheimische hielten die Privilegierung für problematisch. Und es gab Verständigungsschwierigkeiten jenseits der Elite, die Französisch sprach. Im Nachhinein wurde dieser Prozess mythologisiert als erfolgreiches Beispiel von Integration. Wenn man aber im Detail schaut, sieht man, wie konfliktreich das war. Gesellschaft ist immer konfliktreich, weil es auch immer darum geht, um Güter und um politische Teilhabe zu konkurrieren.
Auch die Industrialisierung war eine Geschichte der Migration.
Im 19. Jahrhundert kam es durch Industrialisierung und Urbanisierung zu riesigen Bewegungen. In kurzer Zeit wandelte sich die Gestalt Deutschlands enorm. Aus Gemeinden wie Bochum, das Anfang des 19. Jahrhunderts keine 3.000 Einwohner hatte, wurden Großstädte. Auch München, Hamburg und Berlin wuchsen durch die Verschiebung der wirtschaftlichen Schwerpunkte. Die Industrialisierung war nur möglich durch millionenstarke Migrationsbewegungen. Das Ruhrgebiet war um 1800 von Landwirtschaft und kleinem ländlichen Gewerbe geprägt. Um 1900 bildete es selbst im Weltmaßstab einen großen Industrieraum.
Trotzdem wandern in dieser Zeit viele Deutsche nach Amerika aus, statt zum Beispiel im Ruhrgebiet Arbeit zu suchen. Warum?
Weil Migration in Netzwerken stattfindet. Das kann man gar nicht überbewerten. Es gibt relativ schlichte Vorstellungen, warum und wie Migration passiert. Etwa wenn es ein wirtschaftliches Ungleichgewicht zwischen zwei Regionen gibt. Das ist aber kein zentrales Element. Es existieren viele Beispiele von benachbarten Regionen mit einem großen wirtschaftlichen Entwicklungsgefälle, zwischen denen trotzdem keine Migration stattfindet. Die Region Osnabrück etwa war stark durch Auswanderung geprägt. Zehntausende Menschen gingen im 19. Jahrhundert in die Vereinigten Staaten und siedelten sich in relativ eng gestrickten Herkunftsgemeinschaften an. Viele Familienmitglieder lebten nun in Amerika, und der Kontakt wurde über Generationen gepflegt. Das war so wirkungsmächtig, dass relativ wenig Bewegung ins Ruhrgebiet stattfand, obgleich es vor der Haustür lag, und dass vielmehr der über 6.000 Kilometer lange Weg über den Atlantik eingeschlagen wurde.
Funktioniert das heute auch noch so?
Ja. Je größer ein Netzwerk ist, desto mehr Migration gibt es. Die Menschen gehen nicht einfach in die Fremde. Migration ist geprägt durch Vertrauen in Netzwerke. Deshalb kommt es oft zu Ballungen oder Phänomenen wie Migrantenberufen. Einigen Netzwerken gelingt es, gewisse Berufe zu monopolisieren. Das beste Beispiel sind die Eisdielen in der Bundesrepublik und den Niederlanden, deren Betreiber aus zwei Tälern aus den Dolomiten kommen. Oder die Fish-and-Chips-Shops in Irland. Die werden fast ausschließlich von Italienern betrieben, die aus dem mittelitalienischen Dorf Casalattico stammen. Ursprünglich kam 1904 ein italienischer Maurer, der dann immer mehr Verwandte und Bekannte holte, ihnen mit Krediten half und zeigte, wie man das macht. Viele Syrer kommen heute deshalb nach Deutschland, weil es vor dem Bürgerkrieg schon eine starke Community gab.
Die gegenwärtige Zuordnung von Flüchtlingen in Deutschland nach einem Quotensystem nutzt diesen Netzwerken aber nicht.
Es ist eine große Diskussion, ob die Verteilung, die über den Königsteiner Schlüssel läuft, sinnvoll ist. Die Verteilung trägt dazu bei, dass die Flüchtlinge irgendwo hingeschickt werden und nicht die Möglichkeit haben, zu Verwandten und Bekannten zu gehen. Dadurch werden möglicherweise – genau ist das jedoch noch nicht erforscht – hohe Kosten erzeugt und die positive Wirkung von Netzwerken zunichtegemacht.
Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, dass jeder Migrant den Staat 1800 Euro pro Jahr koste, Migration wäre ein Verlustgeschäft für Deutschland. Sind solche Berechnungen sinnvoll?
Warum nicht? Nur: Diese Berechnung bildet die Komplexität dessen, worüber wir bei Migration reden, gar nicht ab. Um nur einen Punkt zu nennen: Da wurde nur über Leistung des Staates gesprochen. Der gesamte Bereich der Zahlungen für die Sozialkassen, den Migranten erbringen, spielte überhaupt keine Rolle.
Sind die denn so wichtig?
Migration ist durch extreme Fluktuation geprägt. Die Regel ist nicht die dauerhafte Ansiedlung, die Regel ist die Rück- oder Weiterwanderung. Die meisten Aufenthalte sind auf Monate oder wenige Jahre beschränkt. Deshalb zahlen viele Migranten Beiträge für Erwerbslosenversicherung und Krankenversicherung, nehmen aber kaum Leistungen in Anspruch. Außerdem kommt die Migration dem Zielland wirtschaftlich zugute, weil sie Arbeitskräftemangel in einigen Regionen ausgleichen kann. Den bekommen die Europäer selbst nicht gedeckt, weil hier die Mobilitätsbereitschaft recht niedrig ist. Gerade mal zwei Prozent der Unionsbürger leben heute in einem anderen Staat der EU.
Bleiben in den Debatten nach Ihrer Erkenntnis noch andere positive Effekte von Zuwanderung außen vor?
Ja, etwa die Diversität. Vielfalt ist ein wesentlicher Faktor für wirtschaftliche Entwicklung. Das sieht man an den „Global Cities“ wie London, Paris, auch Berlin, den Zentren in der Computertechnologie in Kalifornien und auch an chinesischen Städten. Alle diese Städte mit ihrer hohen Innovationsfähigkeit sind stark durch Migration geprägt. Da gibt es einen direkten Zusammenhang.
Sprechen wir zu wenig über solche Potenziale von Migrationsbewegungen?
Das ist ein großes Problem. In der Flüchtlingspolitik wird vor allem über Instrumente wie etwa Verteilungsschlüssel gesprochen, aber es ist gar nicht klar, welchem Zweck sie dienen sollen. Wir haben eine sehr starke Ad-hoc-Thematisierung. Immer wenn neue Zahlen veröffentlicht werden oder eine Katastrophe passiert, wird für ein paar Tage über das Phänomen gesprochen. Aber wir haben keine nachhaltige Debatte und vor allen Dingen keine klare Zielformulierung im Kontext von Flucht und Migration. Daher kommen schnell Akzeptanzprobleme auf. Deshalb muss man sich nicht wundern, dass bald Debatten über Belastung und Überlastung auftauchen.
Wissen wir zu wenig über Migration?
Ja, eindeutig. Die Migrationsforschung in Deutschland ist stark unterentwickelt. Viele der Aspekte, über die aktuell diskutiert wird, etwa über Flüchtlinge, sind zum guten Teil unverstanden, und es wird viel spekuliert. Etwa unter welchen Bedingungen wer auf welchen Routen durch Afrika hindurch an die libysche Küste kommt. Was motiviert Menschen, diese großen Gefahren auf sich zu nehmen, um Europa zu erreichen, wie kommt es, dass „nur“ drei Prozent aller syrischen Flüchtlinge nach Europa kommen und über 90 Prozent in der Region bleiben?
Wie hilfreich ist dabei der Blick in die Geschichte, etwa der Vergleich der Flüchtlinge von heute mit der deutschen Flucht und Vertreibung, wie ihn Joachim Gauck neulich anstellte?
Wie immer: Vergleiche hinken, auch wissenschaftliche. Trotzdem kann man durch sie neue Perspektiven eröffnen, ohne gleich zu sagen, das eine Phänomen ist genauso wie das andere. Wenn ich über Migration rede, kann ich über Muster reden, die für die Gegebenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso gelten wie für die aktuelle Situation. Die Debatte, die wir heute erleben, wird allerdings geschichtsblind geführt, aber auch raumvergessen. Und damit sind wir wieder am Beginn unseres Gesprächs: Wenn wir über Flucht nach Deutschland und Europa reden, müssen wir uns vor Augen halten, dass weite Teile der Welt davon wesentlich stärker betroffen sind, obgleich sie über weitaus weniger Ressourcen verfügen.
Definition Flüchtling
Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert einen Flüchtling als Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann. Quelle: UNHCR
Definition Migration
Migration ist die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen. Unterscheiden lassen sich verschiedene Erscheinungsformen räumlicher Bevölkerungsbewegungen. Etwa Arbeitswanderung, Bildungs- und Ausbildungswanderung, Kulturwanderung oder Zwangswanderung. Quelle: Uni Oldenburg