Am Eingangstor warten die Boten. Dicht gedrängt stehen sie direkt hinter dem Gitter, das sie von der Freiheit und von Besuchern trennt. „Amiga, wen suchst du?“, rufen sie durcheinander, über die Köpfe der Gefängniswärter hinweg, und winken. „Dante Escobar? Ich hole ihn“, ruft einer der Kuriere. Als er sich umdreht und in Richtung des Gefängnisinneren wegrennt, ist ein Schriftzug auf dem Rücken seiner roten Weste zu sehen: TAXI.
Wer in San Pedro, dem größten Gefängnis Boliviens, einsitzt, braucht Geld. Viel Geld. Neuankömmlinge müssen eine Aufnahmegebühr zahlen und eine Zelle mieten oder kaufen, denn nicht einmal den Schlafplatz gibt es umsonst. Die Gefängnisverwaltung bezahlt nur das Mittagessen, meist eine dünne Suppe. Andere Mahlzeiten kochen die Häftlinge in ihrer Zelle selbst, oder sie gehen in eins der Restaurants, die von anderen Insassen geführt werden. Die meisten Häftlinge arbeiten: als Verkäufer, Masseur, Friseur, in einem Copyshop. Ein ehemaliger Anwalt gibt Rechtsberatung. Ein Zahntechniker bietet Prothesen zu einem so günstigen Preis an, dass nicht nur Häftlinge, sondern auch Kunden von früher zu ihm kommen. Wer keine Berufsausbildung hat, kann immer noch Taxi werden.
Mein Taxi holt Dante Escobar zur Eingangspforte, einen freundlichen, mittel großen Mann mit Basecap und Brille. Er ist Jurist und gewiefter Millionenbetrüger, die Gefangenen haben ihn zu ihrem Repräsentanten gewählt. „Schön, dich zu sehen“, sagt Escobar und lächelt, obwohl er in dieser Woche eigentlich keine Zeit für Besucher hat. Denn die Gefangenen bereiten einen Aufstand vor, um auf die schlechten Bedingungen im Knast aufmerksam zu machen. Sie weigern sich schon seit Tagen, die magere Kost aus der Gefängnisküche zu essen.
Das Gebäude ist über hundert Jahre alt und liegt mitten in La Paz, auf fast 4.000 Meter Höhe, an einem herrlichen Platz mit gepflegten Blumenbeeten und Zeitungskiosken. Gebaut wurde es für 300 Häftlinge, heute sind dort etwa 1.500 untergebracht. Schuld an der Überbelegung ist die bolivianische Gesetzgebung: im Zweifel gegen den Angeklagten. Nur rund ein Viertel der Häftlinge in San Pedro sind verurteilt, die anderen warten auf ihr Verfahren. Bis das beginnt, können Jahre vergehen.
Die Überbelegung hat Folgen. Wenn es regnet, läuft die Kanalisation über, Fäkalien bedecken dann ausgerechnet den Hof, an dem die Gefängnisküche unter gebracht ist. „Das ist ein Gesundheitsrisiko für die Häftlinge“, sagt Escobar und sieht jetzt sehr ernst aus. Es geht um mehr als neue Abflussrohre. „5,50 Bolivianos, 60 Eurocent, das ist das tägliche Budget für unsere Grundversorgung. Das reicht nicht mal für ein vernünftiges Mittagessen. Deshalb sind wir im Ausnahmezustand.“
Die Gefangenen sind sauer. Doch gewaltsame Proteste wie in anderen Männergefängnissen in Lateinamerika gibt es in San Pedro selten. „Allein wegen der Kinder“, sagt Escobar und zeigt in Richtung Eingangspforte. Eine Gruppe von Schulkindern mit Rucksäcken kommt gerade in das Gefängnis. Sie rennen in Richtung eines dunklen, engen Gangs, der den Hauptplatz mit den Sektoren im Gefängnisinneren verbindet. Ganze Familien wohnen in San Pedro. Denn viele der Häftlinge sind arm. So arm, dass die Frauen nicht wissen wohin, wenn ihr Mann verhaftet wird. „Sollen sie auf der Straße leben?“, fragt Repräsentant Escobar. Er glaubt, dass die Gegenwart von mehreren hundert Frauen und Kindern den Knast befriedet. „Es gibt seit Jahren keine Morde.“ Damit es ruhig bleibt, haben die Häftlinge Wachmänner aus den eigenen Reihen bestimmt und strenge Verhaltensregeln aufgestellt: keine Wäsche auf der Leine an Besuchstagen. Toilette sauber halten. Nachtruhe. Keine Prügelei en, Erpressungen oder Diebstähle. Wer die Regeln bricht, wird bestraft. In schlimmen Fällen mit Schlägen oder Isolationshaft. „Einige halten die Vorschriften nur deshalb ein, weil sie nicht nach Chonchocoro wollen“, sagt Escobar. Denn auch Hartgesottene wollen nicht in das berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis mit dem Zungenbrechernamen verlegt werden, in dem es Bandenkriege gibt und die Angst regiert. „Wenn schon im Knast, dann lieber in San Pedro.“
Das findet auch Ana. Die 28Jährige sitzt in einem der Innenhöfe und wiegt ihr drei Monate altes Baby auf dem Arm. Vor einem Jahr heiratete sie ihren Freund, einen verurteilten Mörder, und zog zu ihm in den Knast. „Warum nicht? San Pedro ist wie ein Dorf, das von Mauern um geben ist“, sagt die junge Frau. Sie arbeitete als Sekretärin in einem Ministerium, bevor sie schwanger wurde. Tatsächlich sieht auf den ersten Blick nichts nach Gefängnis aus. Auf dem Hauptplatz stehen Steinbänke und eine Telefonzelle, dahinter eine Kapelle. Ein Hund schnüffelt im Dreck. An den Wänden kleben handgeschriebene Anzeigen: „Vermiete Videorekorder“, „Englischkurs bei Muttersprachler“. Die Wärter stehen nur am Eingang. Sie passen auf, wer rein und rausgeht. Das hyperkapitalistische System, das sich in dem von einer zehn Meter hohen Mauer umgebenen Mikrokosmos entwickelt hat, tasten sie nicht an. „Hier drinnen ist es wie draußen“, sagt Ana resigniert und zuckt die Schultern. „Alles geht ums Geld.“
Wer in San Pedro arm ist, lebt im Elend. Im Sektor Prefectura teilen sich je vier Häftlinge eine karge, neun Quadratmeter große Zelle. Selbst die Genehmigung, im Gang eines Sektors eine Hütte aus Karton aufzubauen, kostet. Doch wer Geld hat, dem geht es gut. In La Posta wohnen die Reichen in mehrstöckigen Luxuszellen mit Whirlpool. In Los Alamos die Mittelklasse, es ist ein ruhiger Sektor mit einem kleinen Sportplatz in der Mitte. Der Immobilienmarkt in San Pedro könnte in Schulen als Erklärbeispiel für die Funktionsweise der Marktmechanismen dienen: Ist das Gefängnis überbelegt, steigen die Preise der Zellen (Verknappung). Werden viele Häftlinge entlassen, sinken sie (steigendes Angebot). Wenn es Gerüchte gibt, dass San Pedro geschlossen und ein neues Gefängnis gebaut werden soll, fallen sie in den Keller (Systemcrash droht). Wenn ein Gefangener entlassen wird, versucht er Monate vorher, seine Zelle loszuwerden. Denn wenn er kurz vor knapp verkauft, bekommt er weniger Geld (kleinerer Verhandlungsspielraum). Ist die Transaktion abgeschlossen, erhält der Käufer für seine Zelle eine Besitzurkunde.
Ana und ihr Mann leben in Los Pinos, einem ruhigen Viertel mit Billardsalon, Saftbar und improvisiertem Dampfbad in einem kleinen Raum, in dem die Häftlinge Eukalyptusblätter erhitzen. „Wir haben unsere Zelle von einem anderen Gefangenen für 2.000 Dollar gekauft. Ein bisschen tragisch, weil er doch nicht freikam und jetzt eine neue kaufen muss und keine findet“, sagt Ana, eine zierliche Frau mit Pferdeschwanz. „Willst du sie sehen?“ Weil die Decken hoch genug sind, konnten Ana und ihr Mann ein Zwischengeschoss in dem drei auf vier Meter großen Raum einziehen. Unten betreiben sie ein Restaurant, servieren Hamburger oder Pommes mit Würstchen an vier kleinen Tischen. Eine steile Leiter führt ins Obergeschoss, die prominentesten Möbelstücke im Raum sind zwei eng nebeneinander stehende Betten und ein Flachbildfernseher, in der Ecke stehen zwei Näpfe mit Katzenfutter. „Platz hätten wir, aber ich möchte, dass mein älterer Sohn zu meiner Schwester zieht“, sagt Ana. „Alberto ist schon zwölf und lernt hier schlimme Worte. Außerdem werden die Gefängniskinder draußen diskriminiert. In der Schule wurde er nur angenommen, weil ich eine andere Adresse angab.“
Die Geschichte eines Häftlings wird bald verfilmt
Vor dem vergitterten Eingangstor stehen die Besucher Schlange. Sie haben große Taschen mit Gemüse, Decken und Geschenken dabei. Immer wieder stellen sich auch Touristen in die Schlange. Sie wollen das Gefängnis besichtigen, das sei möglich, so steht es in ihren Reiseführern. Doch die Wärter schicken sie weg. „No hay tours“, sagen die Uniformierten. „¡Ilegal!“ Diese Worte werden sie in den nächsten Jahren wohl noch oft wiederholen, denn San Pedro ist bei Touristen berühmt, seit der britische ExHäftling Thomas McFadden mit den guided tours begann. Seine Geschichte soll bald verfilmt werden, produziert von Brad Pitt, mit Don Cheadle in der Hauptrolle. Als McFadden zum ersten Mal in dem Gefängnis aufwachte, dachte er, er träume noch: Eine Frau verkaufte auf einem Platz Kartoffeln, Kinder spielten. McFadden schloss die Augen und öffnete sie wieder. Die Frau bot noch immer Kartoffeln an. Der Engländer war wegen Drogenschmuggels verhaftet worden und auf das Schlimmste gefasst. Dunkle Zellen, verwanzte Matratzen, Bandenkriege – so hatte er sich ein Männergefängnis im ärmsten Land Südamerikas vorgestellt.
McFadden hatte Hunger, aber ohne Geld wollte ihm niemand etwas zu essen geben oder einen Schlafplatz. Er war krank und spuckte Blut, doch auch der Arzt – selbst ein Häftling – wollte Geld für die Untersuchung. Nur dank der Hilfe eines Mitgefangenen überlebte er die ersten Wochen. Zuerst bat der Brite Freunde in Europa um Hilfe. Dann begann er, Touristen als seine Besucher auszugeben, und führte sie gegen Geld durch das Gefängnis. Er ließ sie sogar in San Pedro übernachten, gab ihnen Kokain, das damals im Knast hergestellt wurde. Bald war McFadden unter Rucksackreisenden berühmt. Die Wärter am Eingang und einige Mitgefangene verdienten mit. Eine runde Sache. Als der Brite entlassen wurde, übernahmen andere Häftlinge sein Geschäft.
Doch der neue Gefängnisdirektor hat die Touren verboten. „Leider“, sagt Juan, 24, zu 30 Jahren Haft verurteilt, weil er in Rage einen Erpresser ermordete. „Die Besucher waren eine gute Einkommensquelle.“ Juan würde gerne studieren und träumt davon, nach Asien auszuwandern. „Hier leben wir in der Vergangenheit, ich möchte in die Zukunft reisen.“
Dante Escobar sorgt sich lieber um die Gegenwart. „Wenn die Gebäude nicht bald saniert werden, fallen sie in sich zusammen. In viele Zellen regnet es schon lange rein“, sagt er und gestikuliert wild mit den Armen. Doch nach einer Pause fügt er hinzu: „Ich sitze lieber in San Pedro als in einem modernen Gefängnis in Dänemark, in dem ich eine neue Bettdecke und eine Zahnbürste bekomme, aber isoliert lebe. Hier leiden wir, aber wir finden Freunde und sind nicht alleine.“