Im Winter trieben die Massen in Ägypten den Staatschef Hosni Mubarak aus dem Amt. Doch dem Reformeifer der neuen Militärregierung trauen sie nicht. Auch über Facebook machen vor allem jugendliche Aktivisten mobil, damit ihnen die Erträge der Revolution nicht durch die Finger rinnen. Bericht aus einem aufgebrachten Land

Es ist kurz vor Mitternacht auf dem Tahrir- Platz im Zentrum von Kairo, als die Band auf der Bühne die Zeile „In allen Straßen meines Landes!“ singt, und das Publikum begeistert einsteigt. Dieser Hit der Revolution handelt davon, wie sich ein ganzes Land zusammentut und gegen den Diktator erhebt – so wie im Januar und Februar 2011, als Hunderttausende den Staatschef Hosni Mubarak aus dem Amt jagten. Als so viele Menschen auf die Straße gingen, dass es dem Militär vernünftiger erschien, nicht zum Staatschef zu halten, sondern zu den Menschen. Der Hohe Rat des Militärs, ein Gremium von Generälen, regiert seitdem das Land. Damals war alles noch einfach: Es gab einen verhassten Politiker, es gab die Wut, den Zusammenhalt und schließlich die Erlösung durch den Rücktritt. Doch nach einem kurzen Abschwächen kam die Wut wieder und die Angst, dass die Revolution doch nicht stattfindet, obwohl es doch so aussah.

Daher blieb der Tahrir-Platz der Treffpunkt besorgter, aber auch hoffnungsvoller Menschen – Aktivisten, die dort zelteten, politische Reden hielten und Tee tranken. Eine riesige, bunte Mischung: westlich gekleidete Jugendliche neben Mädchen in Burka, die die ägyptische Fahne schwenken und die Finger zum Victory-Zeichen spreizen. Doch welche Idee in Ägypten letztlich siegen wird, ist unklarer denn je. Neben den friedlichen Demonstranten, die sich einfach mehr Demokratie wünschen, gibt es inzwischen auch radikalere Töne. Ende Juli demonstrierten erstmals Hunderttausende Salafisten, die einen islamischen Gottesstaat errichten wollen. Die Zeit der Unwissenheit hält also an – das weiß auch Ahmed Raher, einer der Gründer der Jugendbewegung des „6. April“, die bereits 2008 entstand, als mehrere Jugendliche über Facebook einen Streikaufruf der Industriearbeiter unterstützten. Bei einer Demonstration in der Industriestadt Mahalla wurde erstmals am 6. April 2008 ein Präsidentenporträt zerfetzt. Viele Male wurde ein Foto davon im Web gepostet, und nach und nach wuchs die Bewegung. Im Internet und auch auf der Straße: „Wir haben mit Demoformen experimentiert und viele kleine spontane Aktionen in Armenvierteln gemacht. Zu irgendeinem Thema, zum Beispiel zu den Lebensmittelpreisen. Bevor die Polizei kam, haben wir die Demo aufgelöst“, erzählt Maher beim Tee. Der 30-Jährige mit dem rasierten Kopf hat mit dafür gesorgt, dass es vor der Revolution fast jeden Tag Aktionen gab, mit denen die Bürger auf den Umsturz eingestimmt wurden.

Zur Nachhilfe in Sachen Protest nach Serbien

Unterstützung bekamen diese frühen ägyptischen Aktivisten aus dem Ausland. Einige der revoltierenden Jugendlichen wurden 2009 in Belgrad von den Aktivisten der Organisation Otpor geschult, die nicht nur wesentlich am Sturz des serbischen Gewaltherrschers Slobodan Milosevic beteiligt waren, sondern erst in Osteuropa und mittlerweile weltweit Oppositionsgruppen unterstützt. Bei den serbischen Revolutionsprofis mit der geballten Faust als Logo lernten die Ägypter die Prinzipien des gewaltfreien Kampfes, der ein draufknüppelndes Regime oft umso hilfloser aussehen lässt und mehr Sympathien einbringt als randalierende Demonstranten. Weil aber die Reisekosten für die lernwilligen Revolutionäre damals von der USRegierung bezahlt wurden, so Maher, sieht sich die Oppositionsbewegung bis heute Vorwürfen ausgesetzt, dass sie im Auftrag ausländischer Mächte handle – schließlich sind die USA bei vielen Ägyptern genauso verhasst wie in den anderen Staaten der arabischen Welt. „Es gibt eine Kampagne gegen uns; weil wir so einflussreich sind, versuchen sie, uns als Agenten des Auslands zu diskreditieren“, sagt Amal Sharaf. Die 36-jährige alleinerziehende Mutter und Englischlehrerin gehört zu den Gründerinnen der Bewegung „6. April“ und ist mit für die Betreuung der angeblich inzwischen 20.000 Mitglieder zuständig.

Der Protest der Aktivisten wuchs rasant, und es waren weniger die Aktionen auf der Straße als die im Internet, die zum Erfolg führten: „Facebook hat für uns die entscheidende Rolle gespielt“, sagt Samah Farouk. Die 30-Jährige ist Karikaturistin und schickt ihren 1.500 Facebook-Freunden schon seit mehr als zwei Jahren täglich eine bitterböse Zeichnung als politisches Statement zu, das durch das Weiterposten zuweilen mehr Menschen erreicht als so manche Tageszeitung in Ägypten. Für Samah gehören die beiden Protestebenen zusammen: Im Internet werden massenweise Menschen für die Aktionen auf der Straße mobilisiert, hier tauschen die Aktivisten ihre Meinungen und Erfahrungen aus, geben sie Tipps und sprechen Warnungen aus. Hier wird auch debattiert, welche Forderungen gestellt werden. „Unsere eigentliche Macht besteht darin, dass wir die Menschen auf die Straße bringen können“, sagt Samah.

Doch genau daran hat es in den vergangenen Monaten schon mal gehapert. Zwar wurde Freitag für Freitag demonstriert, aber es waren selten mehr als ein paar Zehntausend Teilnehmer. Bedeutet das, dass auf Facebook doch nur die Mitglieder eines kleinen elitären, gebildeten Zirkels miteinander sprechen? Immerhin beträgt die Analphabetenrate in Ägypten rund 30 Prozent. „Eine Elite hat darüber diskutiert, ob wir erst die Wahlen machen sollen oder erst die Verfassung schreiben. Dabei haben wir die armen und ungebildeten Massen verloren“, merkt Samah selbstkritisch an.

Die neue Regierung hat ein paar Dinge geändert – aber das reicht nicht

Dabei sei es nun „besonders wichtig, dass wir den Druck aufrecht erhalten, damit wir unser Ziel erreichen. Noch haben wir kaum etwas erreicht“, sagt Waled Rashed, ein anderes Mitglied der Bewegung, und verfolgt auf seinem Blackberry die nebenbei einlaufenden Twittermeldungen. Seitdem die Aktivisten den Tahrir- Platz wieder besetzt haben, passiert in Kairo viel und alles gleichzeitig. Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass es sich bei der Revolution am Nil um ein Missverständnis handelt. Die Militärführung, die am 11. Februar nach dem Sturz von Langzeitpräsident Hosni Mubarak die Regierung übernommen hat, versteht unter Revolution etwas ganz anderes als Waled und die anderen Revolutionäre. Die Generäle haben offenbar die Macht in der Absicht übernommen, die Regierung auszutauschen und sonst alles weitgehend beim Alten zu belassen.

Allerdings nahmen sie einige Korrekturen vor: So ließen sie besonders korrupte Politiker und Geschäftsleute verhaften. Auch wurde die Verfassung geändert, sodass nun auch parteilose Politiker für das Präsidentenamt antreten können. Doch der Eindruck, dass sie es dabei belassen wollen, verbreitet sich. Sie sprechen von Revolution, so der Vorwurf, meinen aber eigentlich Regierungswechsel. Kein Wunder, dass der Tahrir-Platz wieder besetzt ist: „Das ist noch keine Revolution, wir haben noch viel vor uns“, sagt Waled Rashed. „Deswegen sind wir wieder auf dem Platz, und diesmal werden wir erst gehen, wenn wir alles erreicht haben.“ Doch was ist alles? „Wir wollen einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft: Wir wollen, dass sich die Ägypter nicht mehr als Eigentum der Herrschenden fühlen, und dass sie sich trauen, ihre Rechte einzufordern, und wir wollen, dass die Regierenden endlich kapieren, dass sie das Volk respektieren müssen.“ Aber selbst Waled glaubt nicht daran, dass er so lange auf dem Tahrir-Platz kampieren wird, bis der Wandel bei allen 82 Millionen Ägyptern angekommen ist.

Daher konzentrieren sich die Demonstranten nun auf leichter zu erreichende Ziele. In langen Diskussionen haben sie sich auf folgende Punkte geeinigt: Sie fordern die Verurteilung der Polizisten, die während der Revolution im Januar und Februar Demonstranten getötet haben. Auch sollen Zivilisten nicht mehr vors Militärgericht gestellt werden. Eine weitere Forderung ist die Einführung eines angemessenen Mindestlohnes sowie eines Maximallohns. Auch, dass dem vertriebenen Präsidenten Mubarak der Prozess gemacht wird, war ein zentrales Anliegen. Tatsächlich begann das Gerichtsverfahren am 3. August. Die Staatsanwaltschaft wirft Mubarak Amtsmissbrauch vor und Mittäterschaft am Mord an 800 Demonstranten. Viele der Protestierenden machen keinen Hehl daraus, welches Urteil sie für Mubarak erwarten: Sie tragen in diesen Tagen statt eines Transparents eine Henkerschlinge in der Hand.

Für die Militärs ist der Prozess heikel, weil in einem solchen Verfahren fast zwangsläufig auch Korruptionsvorwürfe gegen das Militär laut würden; die Armee kontrolliert in Ägypten Schätzungen zufolge immerhin rund 20 Prozent der Wirtschaft. Die Demonstranten werfen der Armee denn auch vor, den Prozess zu verschleppen, und immer lauter wird der Ruf, auch die neue Militärregierung zu stürzen. Diese Forderung steht aber nicht offiziell auf der Liste – zu groß ist die Sorge vieler Aktivisten: Wie werden die Generäle reagieren, wenn sie sich bedroht fühlen? „Ich halte es nicht für richtig, die Militärregierung abzusetzen. Sie hat den Job übernommen, die Revolution zu schützen und unsere Forderungen umzusetzen. Wir erinnern sie daran, und machen Druck, dass sie ihre Aufgabe erfüllt“, sagt Waled Rashed.

Dass die Menschen das Handeln der Politik nicht mehr einfach hinnehmen, zeigt auch ein anderes Ereignis in diesem aufregenden Sommer. Nachdem mehrere Polizisten vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung von Demonstranten freigesprochen worden waren, trieb die Empörung über das Urteil die Menschen in Suez und Kairo auf die Straße. Die Aktivisten vom „6. April“ reagierten auf das Urteil, indem sie ihre Forderungen umformulierten: Statt der Verfassungsdiskussion rückte die strafrechtliche Verfolgung des alten Regimes und seiner Handlanger ganz nach oben auf die Liste, und am 8. Juli war der Tahrir-Platz so voll wie selten. Mit Erfolg: Die Regierung machte angesichts der versammelten Masse Zugeständnisse: 669 ranghohe Polizisten wurden entlassen, das Kabinett umgebildet. Nach und nach versammeln sich auch an diesem Abend rund um die Blumenkübel am Rande des Tahrir-Platzes die Aktivisten des „6. April“. Seit fast neun Monaten halten die Proteste nun an, und allen ist klar, dass es um mehr geht als um die Prozesse gegen Mubarak und die korrupten Funktionäre. Es geht darum, dass die Revolution dauerhaft zu mehr Demokratie im Land führt, dass sich nicht wieder eine Clique von Machthabern aufschwingt, das Volk zu betrügen. Es geht darum, die Früchte des Zorns zu ernten.


Der „Arabische Frühling“

Tunesien

Der erste einer ganzen Reihe von Protesten in Nordafrika brach im Dezember 2010 in Tunesien aus. Nach der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers (siehe Seite 44) gingen die Menschen auf die Straße, um gegen steigende Lebensmittelpreise, hohe Energiekosten und korrupte Politiker zu demonstrieren. Die „Jasmin-Revolution“ genannte Erhebung führte schließlich zur Absetzung und Flucht des Machthabers Ben Ali. Momentan regiert in Tunesien eine Übergangsregierung unter Einbeziehung der früheren Opposition.

Marokko

In der konstitutionellen Monarchie demonstrierten am 20. Februar 2011, dem „Tag der Würde“, Tausende für politische Reformen und mehr Demokratie. König Muhammad VI. kündigte daraufhin Reformen an. Im Oktober finden vorgezogene Parlamentswahlen statt.

Jemen

Der seit über 30 Jahren regierende Ali Abdullah Salih wird von vielen Jemeniten für die Armut im Land verantwortlich gemacht. Auslöser von Protesten war auch Salihs Plan, sich auf Lebenszeit zum Präsidenten zu ernennen. Seit Monaten kommt es vor allem in den Städten Aden und Sanaa immer wieder zu Protesten, die oft gewaltsam niedergeschlagen werden.


Hungerstreik

Der Hungerstreik ist eine der radikalsten Formen des politischen Widerstands, bei der die Protestierenden das Essen verweigern und in der Folge immer schwächer werden. Die Nahrungsverweigerung kann nach circa einem Monat tödliche Folgen haben. In der Vergangenheit wurden hungerstreikende Häftlinge (zum Beispiel in Guantánamo) daher oft zwangsernährt, wofür eine Sonde durch den Mund in den Magen geführt wird, um Nährstoffe zuzuführen. 1993 traten im Ort Bischofferode mehrere Hundert Bergmänner in den Hungerstreik, weil ihre Kali-Grube geschlossen werden sollte. Auch Mahatma Gandhi verweigerte einst mehrfach wochenlang die Nahrung, um einen Bürgerkrieg abzuwenden. Mit Erfolg.