Früher wäre sie am liebsten weggelaufen vor den Zeichen auf der Straße, vor Schildern, Plakaten und Inschriften, die wie abstrakte Gemälde auf sie wirkten und sich nicht entziffern ließen. „Ich hatte keine Hilfe“, sagt Ramona Grabow*. „Ich konnte nix.“ Jahrzehntelang lebte sie mit ihrem Geheimnis. In der U-Bahn merkte sie sich die Farben der Stationen und wusste, wo sie war. Im Supermarkt merkte sie sich die Bilder auf den Etiketten und wusste, was sie kaufte. Sie benutzte kein Internet und schrieb keine SMS. Und wenn sie mal einer ansprach und irgendetwas fragte, dachte sie sich eine Ausrede aus. Tut mir leid, ich kann grade nichts erkennen. Habe meine Brille vergessen. Ich bin Touristin. Sie schämte sich. Und kaum einer merkte ihr was an.
Man kann es ja auch nicht sehen. Ramona Grabow, 38 Jahre alt, eine unscheinbare, schüchterne Frau, hat nie richtig lesen und schreiben gelernt. Nur stockend erzählt sie, wie alles kam. Ihre Eltern seien Alkoholiker gewesen und hätten sich nicht wirklich um sie gekümmert. Sie sei geschlagen und missbraucht worden und habe auch in der Schule immer Probleme gehabt. Mit 15 stand sie ohne Abschluss da. Später habe sie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet und dann als Putzfrau. Ramona dachte, sie sei einfach zu dumm zum Lesen. Dümmer als alle anderen. „Es fühlt sich so beschissen an“, sagt sie. Einer ihrer amtlichen Betreuer riet ihr, zum Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB) zu gehen. Jetzt fährt sie Woche für Woche aus dem Osten Berlins in den Stadtteil Kreuzberg. Folgt einem weißen Schild mit drei großen Buchstaben in den dritten Hinterhof einer ehemaligen Fabrik, vorbei an einem Fahrradladen, einer Kneipe und einer Buchhandlung. Man achtet hier sehr auf Diskretion.
Sie reimen, sie zählen Silben, sie bauen Sätze
Die Psychotherapeutin Ute Jaehn-Niesert arbeitet seit 30 Jahren mit Menschen wie Ramona Grabow. Sie leitet den AOB, eine kleine, öffentlich geförderte Bildungseinrichtung in Berlin. „Als ich hier 1981 angefangen habe, dachte ich, wir machen uns nach ein paar Jahren selbst überflüssig. Aber die Leute kommen noch immer, und sie sind jünger als früher.“ Gerade bereitet eine Pädagogin den Anfängerkurs vor. Sie hängt ein Plakat mit Wörtern auf, in denen „ei“ vorkommt. Eis. Geil. Freiheit. „Obwohl ... da sind schon zu viele Konsonanten für die meisten drin“, sagt sie. Die Erwachsenen müssen erst einmal lernen, die verbale Sprache und die Schriftsprache zusammenzubringen. Sie machen im Grunde genau das, was kleine Kinder in der Grundschule tun. Sie reimen, sie zählen Silben, sie versuchen Buchstaben richtig zusammenzubauen. Im Computerraum des AOB arbeiten sie mit einer speziellen Internetseite für Analphabeten, auf der etwa 15.000 Menschen pro Woche trainieren (www.ich-will-lernen.de).
Im internationalen Vergleich gilt Deutschland eigentlich als ein vollständig alphabetisiertes Land. Doch seit Forscher der Universität Hamburg 2011 eine Studie zur „Literalität der deutsch sprechenden Bevölkerung“ veröffentlicht haben, weiß man, dass etwa 7,5 Millionen Menschen nicht ausreichend lesen und schreiben können, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In der Fachsprache nennt man sie funktionale Analphabeten. Diese Menschen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusammenhängende – auch kürzere – Texte. Jeder, der zum AOB findet, hat eine andere Geschichte zu erzählen. Die einen waren in der Schule lange krank, kamen dann nicht mehr hinterher und brachen irgendwann ab. Die anderen sind früh (und zum Teil auch fälschlich) als Legastheniker diagnostiziert worden und strengten sich dann nicht mehr richtig an. Wieder andere kommen aus Familien, in denen der Analphabetismus über Generationen „weitervererbt“ wurde. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, werden in einem Versuchsprojekt im AOB Eltern gemeinsam mit ihren Kleinkindern beim Lesen gefördert.
Der 29-jährige Bildhauer Jona Wolf* bekommt seit zwei Monaten Unterricht im AOB. „Lä... läläääätzteh ... Seih...teh“, liest er von der Rückseite einer alten fluter-Ausgabe vor. „Die Artikel, die nur aus Text bestehen, sind der Horror für mich.“ In der Grundschule wurde er als Legastheniker eingestuft. Er bekam keine Noten in Deutsch und musste nie laut vorlesen. Er bildete sich ein, dass sein Gehirn einen Fehler hätte und er darum einfach niemals richtig lesen können würde. Auch wenn er offener mit seiner Schwäche umging als Ramona Grabow, hatte er im Alltag manchmal Probleme. Zum Beispiel bekam er Panik, wenn er in einer Galerie ein Kunstwerk für eine Ausstellung verpacken musste, das ein Kurier abholen sollte, und nur noch zehn Minuten Zeit waren, um das Wort „zerbrechlich“ darauf zu schreiben. Als Jona einmal krank im Bett lag, schlug er eine Biografie über Christoph Kolumbus auf. Aus einzelnen Wörtern wurde ein Satz. Aus Sätzen entwickelte sich eine Geschichte. Je weiter er in dem Buch kam, desto leichter fiel ihm auf einmal das Lesen. Was früher eine Arbeit von einem Dreivierteljahr war, gelang ihm plötzlich in anderthalb Wochen: 250 Seiten Text. „Ich war echt beeindruckt von mir“, sagt er. Noch immer macht er Fehler. Er schreibt „Vogel“ manchmal mit „F“, und das Wort „und“ endet bei ihm mit „t“. Aber er wird besser. Und er liest jetzt Bücher über Zivilisationskritik und Kunsttheorie.
Die meisten führen eine Art Doppelleben
Ute Jaehn-Niesert kümmert sich manchmal auch um die psychische Betreuung ihrer Schüler. Auf Wunsch gehen einige von ihnen parallel zum Unterricht zu einer Therapie. Die Verunsicherung, die durch das Problem mit dem Lesen und Schreiben entstehe, greife auf andere Bereiche über, erzählt sie. Viele hätten ein schlechtes Selbstbewusstsein oder hielten sich für dumm. Funktionaler Analphabetismus kostet außerdem viel Kraft. Betroffene bauen sich fast immer irgendeine Art von Doppelleben auf. Sie arbeiten in Berufen, in denen man möglichst wenig mit Schrift zu tun haben muss. Sie erfinden ständig Ausreden, um nicht schreiben zu müssen. Sie stellen sich krank, im Extremfall verletzten sich manche sogar selbst. Ute Jaehn-Niesert erzählt von einer Frau, die ihrem Ehemann seit vielen Jahren verheimlicht, dass sie Analphabetin ist. Jeden Abend tut sie so, als läse sie ihm aus der Fernsehzeitung vor. Weil sie tagsüber immer die Programmvorschauen auf allen Kanälen anschaut und sich merkt, was später läuft. Es gibt mittlerweile eine anonyme Telefonhotline für Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Es gibt Geld für die Forschung. Es gibt die Bildungsministerin, die die Anzahl der funktionalen Analphabeten im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen zwischen 2003 und 2012 halbieren will. Ute Jaehn-Niesert kann am Ende auch nur hoffen, dass die Betroffenen von selber den Weg zu ihr finden. Man sieht es ihnen ja nicht an.
* Die Namen wurden geändert
Wir müssen mal über Zahlen reden:
6.000 bis 8.000 Sprachen gibt es weltweit
Ca. eine Milliarde Menschen sprechen Englisch als Mutter- oder erste Fremdsprache
300.000 bis 500.000 Wörter (Grundformen) umfasst der Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache
Mit 36 Buchstaben ist „Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung“ das längste Wort im Duden
Mit 35,3 Prozent war laut Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft im Jahr 2005 der Anteil deutschsprachiger Musik in den offiziellen Albumcharts bislang am höchsten
14.042.789 nicht in Deutschland lebende Menschen haben im Jahr 2010 Deutsch gelernt
Es gibt über 50.000 chinesische Schriftzeichen
58 Sprachen fließend spricht Ziad Fazah, eines der größten lebenden Sprachgenies
14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren fielen 2010 in die Kategorie „funktionale Analphabeten“
60,3 Prozent der funktionalen Analphabeten sind Männer
Weitere 13,3 Millionen Erwerbstätige haben Probleme beim Lesen und Schreiben
Quellen: Unesco; Duden; Goethe-Institut; leo - Level One Studie