Wer in der politischen Kommunikation Erfolg haben will, der muss die „Begriffe besetzen“. So plakativ umschrieb der damalige Generalsekretär der CDU, Kurt Biedenkopf, das Ringen um die Definitionshoheit über bestimmte Vokabeln in der politischen Auseinandersetzung. Bis heute gibt es verschiedene sprachliche Strategien, mit denen um Wörter gestritten wird.
1 Wortprägung
Eine Methode ist die der Wortprägung. In den bis zur Wiedervereinigung 1990 geführten Diskussionen über die polnische Westgrenze bezeichneten Gegner ihrer Anerkennung die Grenze als „Oder-Neiße-Linie“. Das Wort Linie sollte dabei deutlich machen, dass die Grenze als ein in der Zukunft aufzuhebendes, willkürliches Provisorium anzusehen sei. So unterstrich man den Anspruch auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete. Befürworter nannten sie hingegen „Oder-Neiße-Grenze“ und betonten damit ihren völkerrechtlich verbindlichen, endgültigen Charakter. Im Sprachgebrauch der DDR wurde sie ab 1950 sogar als „Friedensgrenze“ und damit als in Verträgen festgelegt und unaufhebbar bezeichnet. Die Prägung der jeweiligen Bezeichnung ist der Versuch, den eigenen Standpunkt und die eigene Beurteilung des Problems im öffentlichen Bewusstsein durchzusetzen. So klingt das von der Energielobby bevorzugte Wort „Kernkraft“ viel ungefährlicher als „Atomkraft“. Der Ausdruck Kernkraft war ursprünglich ein Fachterminus, der in den sechziger Jahren allmählich den Ausdruck Atomkraft im öffentlichen Sprachgebrauch ablöste. Atomkraftgegner kritisierten das Wort als beschönigend, während Politiker und Physiker die Ausdrücke Kernenergie/-kraft weiterhin positiv oder neutral verwendeten. Die jeweiligen Ausdrücke erhielten durch ihre spezifische Verwendung Abzeichencharakter, an dem sich der Standpunkt der Befürworter wie Gegner erkennen lässt. Seit den neunziger Jahren ist dieser Bezeichnungsstreit weitgehend aufgehoben, im öffentlichen Sprachgebrauch dominieren – erst recht nach der Katastrophe in Fukushima – die negativen Ausdrücke Atomenergie und Atomkraft.
2 Metapher
Eine besonders beliebte Form der Wortprägung ist die Metapher. Wörter oder Wendungen mit bildhafter, übertragener Bedeutung sind deshalb so attraktiv, weil sie komplexe Sachverhalte vereinfachend und verständlich darstellen. Sie enthalten darüber hinaus oft noch versteckte Argumentationen und Handlungsanweisungen. In den Auseinandersetzungen über die Einwanderungspolitik wurde zum Beispiel mit Ausdrücken wie „Ausländer-“ beziehungsweise „Asylantenflut“, „-schwemme“, „-strom“, „-welle“ und „-lawine“ der Eindruck hervorgerufen, als handele es sich bei den Zuwanderern um eine ungeheuer große, kaum beherrschbare Menge von Menschen, die nach Deutschland wollen. Zugleich enthielt das gewählte Bild die als notwendig angesehene Gegenmaßnahme. Es entstand der Eindruck, dass gegen die massenhafte Zuwanderung Dämme errichtet werden müssten – ein plakatives Argument, um das Asylrecht einzuschränken.
3 Fahnenwörter & Stigmavokabeln
Ab Mitte der sechziger Jahre etablierte die SPD ihr Fahnenwort „Chancengleichheit“ als Bezeichnung für das von ihr vertretene bildungspolitische Konzept, sozial schwächer gestellten Kindern durch die Einführung von Gesamtschulen bessere Zugangsmöglichkeiten zu höheren Schulen zu eröffnen. Das Wort setzte sich derfolgreich durch. Chancengleichheit hat mittlerweile – auch weil der Ausdruck in anderen gesellschaftlichen Bereichen benutzt wird – wieder einen ähnlichen parteiübergreifenden Stellenwert als Programmund Zielvokabel wie in den sechziger Jahren.
Oft wird versucht, ein vom politischen Gegner benutztes Fahnenwort seiner positiven Bedeutung zu berauben und zu einer Stigmavokabel zu machen – indem zum Beispiel ein Wortbestandteil davon eine negative Bedeutung bekommt. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Verwendung der Wörter Gemeinschaftsschule und Einheitsschule in der politischen Auseinandersetzung um die Abschaffung oder Beibehaltung des gegliederten Schulsystems. Während das Wort Gemeinschaftsschule von den Befürwortern des gemeinsamen Lernens benutzt wird, spielt die Gegenvokabel Einheitsschule mit dem Bild von Gleichmacherei.
Eine spezielle Variante der Auseinandersetzung um Fahnenwörter und Gegenvokabeln ist es, sich selbst mit einer Stigmavokabel zu bezeichnen und sie dadurch zu neutralisieren. In den siebziger Jahren bezeichneten sich zum Beispiel Homosexuelle als Schwule beziehungsweise Lesben – bis dahin stigmatisierende Diffamierungsund Beschimpfungsvokabeln – und erreichten dadurch, dass diese Ausdrücke heute neutral verwendet werden können.
4 Realistische Diktion
Sprachstrategisch wirkungsvoll ist auch die Verwendung der sogenannten realistischen Diktion, der Gleichsetzung von Begriffen, zum Beispiel: „Deutschland ist (k)ein Einwanderungsland“, „Kopftuchverbot ist Berufsverbot“. Dabei verdecken solche Formulierungen, dass jemand mit bestimmter Zielsetzung einen Ausdruck wählt, der einen Sachverhalt wie Zuwanderung als notwendig oder überflüssig bewertet, oder dass jemand das Verbot, als Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch zu tragen – was als demonstrativer Ausdruck einer Religionszugehörigkeit gilt –, als Berufsverbot einschätzt.
5 Der Streit um die „neue Mitte“
Das Beispiel der Auseinandersetzung um das Schlagwort „neue Mitte“ zeigt exemplarisch, wie langlebig semantische Kämpfe sein können: Der Ausdruck Mitte war und ist als Hochwertvokabel für alle politischen Lager attraktiv. Im Sinne von „Zielgruppe“ steht Mitte für die Mehrheit der Wähler, die es bei Wahlen zu erobern gilt. Bundeskanzler Willy Brandt prägte 1972 den Ausdruck „neue Mitte“, worunter er nicht mehr die Wähler der bürgerlichen Parteien, sondern die sozialliberale Regierungspolitik verstanden wissen wollte. Daneben sollte mit der Vokabel „neue Mitte“ ein Konzept geschaffen werden, das es ermöglichte, die Studentenbewegung in die parlamentarische Demokratie zu integrieren. Mit dieser Wortprägung versuchte er zum einen, von den positiven Assoziationen des Ausdrucks Mitte zu profitieren, zum anderen ging es ihm darum, ihn den bürgerlichen Parteien durch den Zusatz „neu“ zu entreißen. Die Opposition widersetzte sich dieser Uminterpretation. So erklärte Franz Josef Strauß (CSU): „Die neue Mitte, die Sie darstellen wollen, gibt es gar nicht. Entweder ist es die alte Mitte, dann ist es auch die neue Mitte – oder es ist keine Mitte.“
Im Bundestagswahlkampf 1994 definierte sich die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP als Koalition der Mitte und warb mit dem Slogan „Politische Mitte oder Linksbündnis“. Dem versuchte die SPD im Bundestagswahlkampf 1998 in Anlehnung an Tony Blairs „New Labour“ oder Bill Clintons „New Democrats“ eine neue Mitte entgegenzusetzen, worunter SPD-Kanzlerkandidat Schröder eine Politik verstand, die „die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt“ und die „für Solidarität und Innovation, für Unternehmungslust und Bürgersinn, für ökologische Verantwortung und eine politische Führung“ steht.
Für manche ist die Neue Mitte ganz die alte
Umstritten war hier vor allem die Frage, ob die Strategie der SPD darin bestünde, die Vokabel Mitte zu besetzen und ihre positive Konnotation für sich in Anspruch zu nehmen, oder ob ihre Verwendung für eine programmatische Neudefinition der politischen Mitte stünde. Aus Sicht von Union und FDP ging es dem Kanzlerkandidaten Schröder vor allem um die Besetzung eines Wortes.
Insbesondere an der Verwendung des Wortes „neu“ entzündete sich die Kritik. Von konservativer Seite wurde die Argumentation von Strauß wieder aufgegriffen, um die Skepsis über den Innovationsgehalt des Wortes und über die Politik zu unterstreichen. Der Versuch, die Programmvokabel „Neue Mitte“ von 1973 zu übernehmen, wurde als gescheitert betrachtet, da sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zwischenzeit verändert hatten. Mitte ist heute eine umkämpfte Vokabel, die fast alle politischen Parteien für sich beanspruchen.
Unser Autor, geboren 1967, ist Germanist an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und forscht dort zur „Politischen Sprache der Weimarer Republik".