Krieg in Syrien, Libyen und im Südosten der Türkei, Terror in Paris, Jakarta, Istanbul – und wieder einmal Hunger am Horn von Afrika: Die Nachrichten vermitteln gerade den Eindruck, unsere Welt versänke im übelsten Chaos. Während der Begriff „Chaos“ die Situation in Ländern wie Syrien leider treffend beschreibt, geht es großen Teilen der Menschheit besser als je zuvor. Das ist eine der Kernbotschaftendes jüngsten „Human Development Report“, den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen im Dezember veröffentlicht hat: Auf rund 300 Seiten wird darin der Stand der „menschlichen Entwicklung“ im Jahr 2014 erläutert.
Fortschritt ist mehr als wirtschaftlicher Erfolg
Die Grundlage für diese Einschätzung bildet dabei der Human Development Index (Deutsch: Index für humane Entwicklung). Der HDI misst Entwicklung im Sinne von Wohlstand und Wohlergehen. Der pakistanische Ökonom Mahbub ul Haq hat ihn 1990 als eine Art Gegenentwurf zu den rein wirtschaftlich ausgerichteten Entwicklungsparametern der Weltbank entworfen. Denn bis dahin wurde „Entwicklung“ meist mit „wirtschaftlicher Entwicklung“ gleichgesetzt. Wenn also die Elfenbeinküste mehr Kakao nach Europa oder in die USA verfrachtete, galt dies als Fortschritt – unabhängig davon, ob die Menschen in dem westafrikanischen Tropenstaat von der gesteigerten Exportrate auch tatsächlich profitierten.
Um ein realistischeres Bild von „menschlicher Entwicklung“ zu zeichnen, sind im HDI neben dem Bruttonationaleinkommen auch Faktoren wie die Lebenserwartung oder die Anzahl der absolvierten Schuljahre enthalten. Die Idee dahinter: Wer länger lebt und eine bessere Bildung hat, der kann generell ein besseres Leben führen und mit seinem Schaffen die Gesellschaft bereichern. Und so kommt es, dass etwa für Chile ein deutlich besserer HDI-Wert berechnet wurde als für das wirtschaftlich vergleichbare Malaysia. Denn in Malaysia liegt die voraussichtliche Schulbesuchsdauer im Schnitt 2,5 Jahre unter der von Chile, und die Menschen dort sterben sogar sieben Jahre früher.
Der „Bericht über die menschliche Entwicklung“ bietet allerdings mehr als nur eine Auflistung der HDI-Werte – das aktuelle Schwerpunktthema „Arbeit“ wird beispielsweise besonders intensiv analysiert. Unser Autor hat einen Blick in den aktuellen Bericht geworfen und findet die folgenden Ergebnisse besonders interessant – auch weil sie manch verbreitetes Vorurteil korrigieren.
1. Das Chaos konzentriert sich auf wenige Regionen
Vorneweg: Natürlich wirken sich die erwähnten Kriege auf den Entwicklungsstand der betroffenen Länder aus. So rutschte Syrien in den letzten Jahren im HDI-Ranking um 15 Plätze ab. Noch schlechter ergeht es dem ehemals recht wohlhabenden und ebenfalls unter einem Bürgerkrieg leidenden Libyen, das sich im gleichen Zeitraum um 27 Plätze verschlechterte. Auch in fünf weiteren Ländern und Territorien sank die Lebensqualität im Jahr 2014 nach Einschätzung der Vereinten Nationen: in Venezuela, in Palästina, im Irak, in Osttimor und in Gambia. Diesen sieben Verlierern stehen allerdings 171 Länder und Gebiete gegenüber, in denen es sich gemäß HDI-Wert besser lebt als zuvor – etwa in Irland, im Bergstaat Bhutan oder in der Republik Kongo. In zehn Ländern stagnierte die Entwicklung.
2. Wo die Lebensqualität am höchsten und am niedrigsten ist
Anführer des Entwicklungsindex ist seit Jahren das reiche Norwegen: Die Menschen in dem skandinavischen Land haben eine Lebenserwartung von 81,6 Jahren, und wer heute dort geboren wird, kann mit über 17 Jahren Ausbildungszeit rechnen – vor allem aber erwirtschaften die Norweger sehr viel Geld. Auf den Plätzen 2 und 3 des HDI folgen Australien und die Schweiz. Deutschland erreicht Platz 6. Das erste nichtwestliche Land auf der Liste ist der wirtschaftlich starke und autoritär regierte Stadtstaat Singapur auf Platz 11. Vergleichsweise niedrig ist die Lebensqualität in vielen afrikanischen Nationen: Die 17 letzten Plätze des Index entfallen allesamt auf Länder dieses Kontinents.
3. Nicht ganz Afrika ist arm dran
Der Report zeigt auch, wie unterschiedlich die Lebensbedingungen in den afrikanischen Ländern sind, die in der deutschen Öffentlichkeit gerne – mit Ausnahme von Südafrika und dem Gebiet nördlich der Sahara – als einheitliches, immer wieder von Krisen heimgesuchtes Ganzes wahrgenommen werden. Zwar ist die Situation in vielen afrikanischen Ländern tatsächlich sehr schlecht: So können Neugeborene im Niger nur mit gut fünf Jahren Ausbildungszeit rechnen, und die Menschen in der krisengeschüttelten Zentralafrikanischen Republik werden im Schnitt nicht einmal 51 Jahre alt. Auf der anderen Seite gibt es jedoch afrikanische Staaten wie Ghana oder Sambia, in denen Wohlstand und Wohlergehen ähnlich hoch sind wie etwa im boomenden Indien. Und: Selbst in den ärmsten afrikanischen Staaten klettern die HDI-Werte, wenn auch langsam, stetig nach oben. Dies gilt übrigens für alle Erdteile. Lebten 1990 noch 3,2 Milliarden Menschen in Ländern, die als niedrig entwickelt bewertet wurden, waren es im Jahr 2014 „nur“ noch 1,2 Milliarden.
4. Millionen leben trotz Arbeit in Armut
Doch diesen Menschen geht es zum Teil richtig schlecht. Während in Deutschland das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen bei etwa 3.000 Euro netto liegt, mussten 2014 in anderen Ländern rund 830 Millionen Menschen trotz Arbeit mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen. Und: 200 Millionen Menschen hatten gar keine Arbeit, 21 Millionen wurden zur Arbeit gezwungen. Der Hauptautor des aktuellen Reports, Selim Jahan, mahnt deshalb: „Der menschliche Fortschritt wird sich beschleunigen, wenn jeder, der arbeiten will, auch die Möglichkeit hat, das unter anständigen Bedingungen zu tun.“
5. Frauen haben es schwer
Der Entwicklungsreport enthält noch eine weitere wichtige schlechte Nachricht: Bis zur Gleichberechtigung ist es noch ein langer Weg. So verdienen Frauen nicht nur 24 Prozent weniger als Männer – sie arbeiten auch häufiger ganz ohne Bezahlung, etwa in der Pflege, und haben seltener die Chance, höhere Schulen zu besuchen. Außerdem ist die politische Repräsentation von Frauen in fast allen Ländern der Erde extrem schlecht. Zwar hat sich der Anteil der Frauen in den nationalen Parlamenten in den letzten 20 Jahren verdoppelt, dennoch sind weltweit immer noch vier von fünf Parlamentariern Männer. Lediglich zwei Länder haben Parlamente, in denen mehr Frauen als Männer sitzen: Ruanda und Bolivien. Die mangelnde Geschlechtergerechtigkeit wird in dem Report als eine der „Haupthürden“ auf dem Weg zu einem besseren Leben bezeichnet.
6. Immer mehr Menschen leben in Städten
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebte 2014 in Städten – fast vier Milliarden Menschen. Im Jahr 2050, so schätzen die UN, werden sogar mehr als zwei Drittel der Menschen in Städten wohnen. Das rapide Wachstum bringt zwar viele Probleme mit sich, wie etwa ein erdrückendes Verkehrsaufkommen und sich verstärkende Luftverschmutzung. Doch gibt es laut UN auch zahlreiche Vorteile, denn in Städten haben die Menschen in der Regel einen besseren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. „Städte“, so heißt es in dem Bericht, „versprechen den Menschen ein besseres Leben“.
7. Auch der HDI sagt nicht alles
Während die Autoren des „Human Development Report“ etliche Ungerechtigkeiten kritisieren, wird allerdings auch der von ihnen verwendete Index immer wieder kritisiert. Denn der HDI misst längst nicht alles, was „menschliche Entwicklung“ und ein gutes Leben ausmacht: Menschenrechte oder Umweltaspekte zum Beispiel kommen im HDI höchstens indirekt vor. Außerdem verwendet der Index Durchschnittswerte für ein ganzes Land, weshalb Ungleichheiten innerhalb einer Nation nicht abgebildet werden. Eines jedoch kann der HDI auf jeden Fall: uns zeigen, dass die Welt – trotz allem – nicht im Chaos versinkt.