Herr Prof. Dr. Kreibich, was ist Zukunft überhaupt?
Einfach ausgedrückt, alle Vorgänge und Prozesse, die auf der Zeitachse der kosmischen, natürlichen und gesellschaftlichen Entwicklung noch vor uns liegen. Nun wissen wir heute sicher, dass die Zukunft nicht vollständig bestimmbar ist. Gleichzeitig wissen wir auch, dass es nicht beliebig viele Zukünfte geben kann. Das hat aber zwei wunderbare Konsequenzen: Erstens gibt das die Möglichkeit, Zukünfte aktiv zu gestalten. Und zweitens folgt daraus, dass wir trotz prinzipieller Unsicherheit viel über die Zukunft wissen können, und tatsächlich auch wissen. Insbesondere für »Wenn-dann-Aussagen « gibt es eine Menge wissenschaftliches Zukunftswissen, so z. B. über die demografische Entwicklung oder die Folgen des Klimawandels.
Kommt nicht aber sowieso immer etwas dazwischen?
Deshalb versuchen wir für eine realistische Zukunftsgestaltung etwa durch negative und positive Zukunftsszenarien, Simulationsmodelle und durch die Darstellung nicht nur wahrscheinlicher Zukunftsbilder, sondern auch prinzipiell möglicher und wünschbarer Zukunftsoptionen Entwicklungen aufzuzeigen. Dabei werden auch Störfaktoren mit einbezogen. Etwa durch die Wild-Card-Methode: eine ökonomische Wild Card wäre z. B. der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems oder eine Ölpreiskrise.
Zukunftsforscher reden gern von Trends. Welche sehen Sie?
Es kann keinen Zweifel geben, dass ein Megatrend die wissenschaftlichen und technologischen Innovationen der Zukunft sein werden, ein anderer die Umweltbelastungen und der Raubbau an den Naturressourcen. Die größte Aufgabe des 21. Jahrhunderts besteht darin, die hocheffizienten Zukunftstechnologien nicht weiter in ökologisch und sozial zerstörerischer Weise, sondern im Sinne einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung zu nutzen. Dass das prinzipiell möglich ist, steht außer Frage.
In Deutschland werden die Menschen immer älter, es gibt zu wenig Nachwuchs und in vielen Bereichen einen Reformstau. Wo sehen Sie denn bei uns den Aufbruch?
Wir sind leider auf einem schlechteren Weg als noch vor zehn Jahren. Ich hoffe aber, dass die globale Erwärmung jedem zu denken gibt und die Notwendigkeit regenerativer Energien, neuer Stromspeichertechnologien und Nahwärmesysteme klar wird. Ich bin optimistisch, weil wir vor drei bis vier Jahren den Break-even erreicht haben – also den Punkt, an dem die Entwicklung hin zu einem technologischen und volkswirtschaftlichen Fortschritt durch Nachhaltigkeit unumkehrbar geworden ist. Wir sind auf dem Zukunftskurs, und die großen Energieversorger, die uns jahrelang die Beine weggeschlagen haben, sind auf dem Rückzug. Die Versuche, die dezentralen regenerativen Energien zu sabotieren oder die Atomkraft aufleben zu lassen, sind letzte Zuckungen eines veralteten Denkens.
Die Zukunft als technologischer Marktführer könnte doch so einfach sein: ein sauberes Land, das seine saubere Technik in alle Welt exportiert. Wo ist das Problem?
Das ist fast schon eine kuriose Situation. Noch bis vor wenigen Jahren hat die Politik dieses Zukunftsfeld oft weggeschoben. Wenn Politiker – egal welcher Partei – heute über Arbeitsplätze reden und über die Zukunft der Wirtschaft, dann kommen sie immer nur auf Umwelttechnologien. Deswegen ist es schon grotesk, das immer noch zu negieren. Vor einiger Zeit gab es einen Artikel im »Handelsblatt«: »Wirtschaft pocht auf strengen Klimaschutz.« So eine Schlagzeile hätte es vor fünf Jahren nicht gegeben.
Das Erreichen der Klimaziele liegt doch aber nicht nur an den Unternehmen. Gibt es nicht noch zu viele Bürger, die ihr Verhalten nicht ändern?
Ich bin sicher, dass wir schon zwischen 2030 bis 2040 eine vollständige Versorgung mit regenerativen Energien schaffen könnten, aber dafür müssen alle weniger Strom verbrauchen. Nicht nur die Industrie. Aber das ist ja durchaus möglich, weil die ganzen Geräte dafür da sind.
Eine andere Aufgabe für die Zukunft ist die Bekämpfung der Armut und des Welthungers. Müsste man nicht vielen Ländern der Dritten Welt die Schul den erlassen, um die Flüchtlingsströme zu verhindern, die die Welt ja langfristig viel mehr kosten – genau wie die Kriege, die in diesen Regionen ausbrechen.
Ja, das wäre in die Zukunft gedacht. Aber stattdessen baut man lieber immer höhere Zäune. Das ist ein klassisches Beispiel für Realitätsverweigerung.
Der Kampf gegen die Armut und die Erderwärmung sind sehr große, langfristige Ziele. Politiker werden aber immer nur für relativ kurze Zeiträume gewählt. Ist das nicht ein großes Problem?
Absolut: Es gibt kaum Langfrist-Denken und kaum Langfrist-Strategien. Das ist in dieser Zeit des Klimawandels, der Vernichtung von Boden, der sozialen Verwerfungen zwischen Erster und Dritter Welt und der Globalisierung das Schlimmste. Bei diesen Herkulesaufgaben ist es mit Kurzfrist-Denken nicht mehr getan. Viele Firmen gehen pleite, weil nur auf schnelle Gewinne geschaut wurde, anstatt an die Zukunft zu denken. Deswegen ist ja unter anderem die deutsche Autoindustrie in einem schrecklichen Zustand.
Weil sie anstatt Hybridautos entworfen zu haben, auf immer größere Motoren und Karossen setzte?
Ja, da wurde an der gesellschaftlichen Realität vorbeientwickelt. Die meisten Konzerne wollen unter dem Druck der Aktionäre nicht übermorgen und gar in fünf Jahren Gewinne machen, sondern sofort. Das führt zu kurzen Innovationszyklen, und meistens sind das gar keine richtigen Innovationen. Statt sparsame Motoren zu entwickeln, haben viele Autobauer kurzfristige Gewinne gemacht – mit Autos, an denen vielleicht das Design eines Scheinwerfers neu war, anstatt mit Produkten, die die Ressourcen schonen. Man muss sich mal vorstellen: ein Geländewagen, der zwei Tonnen wiegt, verbraucht bei der Produktion das 20-fache an Rohstoffen. Wir haben zu unserer großen Überraschung festgestellt, dass sogar in kleineren, mittelständischen Unternehmen nur in Rhythmen von drei bis fünf Jahren gedacht wird. Aber eine Erfindung in der Pharmazie oder im Maschinenbau braucht oft doppelt so lang, bis sie marktreif ist. Da reicht das kurzfristige Denken nicht.
Manager denken an die Aktionäre, Politiker an die Wähler. Wo ist der Unterschied?
Was das kurzfristige Denken anbelangt, ist der Unterschied nicht groß. Die Regierungsperiode ist vier Jahre lang. Zu Beginn gibt es langwierige Koalitionsverhandlungen, im letzten Jahr denkt man schon wieder an Wahlkampf. Da bleiben vielleicht drei Jahre zum Gestalten übrig.
Wie kann man das ändern? Mit längeren Legislaturperioden?
Man könnte natürlich auf fünf oder sechs Jahre verlängern, das wäre nicht schlecht. Aber vor allem würde ich mir eine größere Unabhängigkeit bei Entscheidungen wünschen. Weniger Gruppenbildung oder Einbindung in Fraktionen. Die Politiker müssten mehr fachlichen Sachverstand haben und weniger Angst, bei einer Abwahl in ein schwarzes Loch zu fallen. Wir benötigen ein größeres Spektrum an aktiven Menschen unterschiedlicher Disziplinen. Heute haben wir circa 150 Juristen im Bundestag und 110 Lehrer. Viele, die andere Berufe erfolgreich ausüben oder Unternehmer sind, fürchten das schlechte Image der Politik.
Lassen Sie uns über Jugendliche sprechen, schließlich machen doch die unsere Zukunft aus. Wie zukunftsfähig sind sie denn?
Leider hat sich das ausgeprägte egoistische und konsumtive Verhalten von früher kaum geändert. Eher das Gegenteil. Wir haben heute eine extrem ich- bezogene Jugend. Es gibt natürlich viele Ausnahmen, aber viele sind nicht mehr in der Lage, das Wichtige vomUnwichtigen zu unterscheiden und sich in der Informationsflut im Internet zurechtzufinden. Dann schwimmt man eben mit dem Strom und macht das nach, was die anderen vormachen.
Gibt es deswegen so viele Revival Wellen? Dass also auf einmal viele Jugendliche herumlaufen wie in den 80ern oder 90ern?
Das hat sicher damit zu tun. Etwas, das schon mal da war, nachzuahmen, ist wesentlich bequemer als neue Welten zu entdecken.
Wie muss sich denn die Bildung ändern, um den Schülern die Zukunft schmackhafter zu machen?
An den Schulen wird viel zu wenig Wert auf soziale Kompetenzen gelegt, auf Mentalitätskompetenz und Kulturverständnis. Egal, um welchen Erdteil es geht: Die Menschen sind nicht auf internationale Verbindungen und Netzwerke vorbereitet. Es wird zwar immer viel von Globalisierung geredet, aber da steckt wenig dahinter. Man braucht ein solides Fachwissen und die Fähigkeit zu vernetztem Denken – ein Denken über den eigenen Fachbereich hinaus und vor allem Orientierung.
Die Globalisierung findet vor allem im Internet statt. Es gibt so viele Informationen wie noch nie zuvor, und dennoch wird die Welt von einer Krise wie dem Zusammenbruch der Banken überrascht. Wie kann es sein, dass niemand so etwas kommen sieht?
Viele Menschen und Institutionen wie etwa die Weltbank oder die Bundesbank mussten wissen, dass die Blase platzt. Wir hatten 2007 einen gigantischen Anstieg von Spekulationen. Täglich wurden Tausende Milliarden Dollar virtuell durch die Welt geschoben. Die Kontrollen dafür gingen gegen null. Das waren Leute, die nur an ihrem Computer saßen und riesige Gehälter kassierten, mit denen sie sich Autos, Häuser und Schiffe kauften, ohne einen einzigen Dollar an Wert zu schaffen. So etwas kann ja gar nicht funktionieren. Und die Banken haben dieses Spiel mitgespielt und sich Finanzprodukte ausgedacht, die zu einer Kaskade von Krediten führten. Es war eine reine Luftnummer.
Momentan bekommen manche Banker schon wieder riesige Bonuszahlungen, nachdem ihre Institute mit staatlichen Milliarden gerettet wurden. Ist die Welt nicht lernfähig?
Der Finanzsektor ist der einzige Wirtschaftsbereich, der ungeregelt ist. Man muss sich malvorstellen, wenn der Pharmasektor ungeregelt wäre. Da gäbe es wahrscheinlich einen Contergan-Fall nach dem anderen. Oder die Chemiebranche oder die Atomwirtschaft. Es gäbe Katastrophen noch und nöcher.
Bisher galt ein Land als gesund, wenn die Wirtschaft wächst. Momentan tut sie das nicht. Ist ein immerwährendes Wachstum überhaupt realistisch und auch in Zukunft der richtige Gradmesser für die Gesundheit einer Volkswirtschaft?
Es gibt nicht eine Größe auf der ganzen Erde, die immer nur wächst. Das ist eine abstruse Geschichte. Ich war Mitglied in der Deutschen Delegation bei der Rio-Konferenz 1992, bei der zum ersten Mal Umwelt- und Wirtschaftsfragen im globalen Rahmen erörtert wurden. Schon damals haben wir den Begriff »Entwicklung« eingeführt. Die Erde entwickelt sich, aber sie wächst nicht ständig. Es geht nicht um schiere Größe, sondern um ein Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch. Wir können uns die ganze Menschheitsentwicklung anschauen: Es hat immer Wachstum und Schrumpfung gegeben, aber wir sind aus dem Gleichgewicht rausgesprungen. Wir müssen schauen, dass wir wieder hineinkommen. Dieser Wachstumsfetischismus hat uns ja die ganze Zerstörung der Lebensräume eingebrockt und dennoch beharren manche Leute darauf. Dabei hat die Lebensqualität seit 1976 trotz Wachstum auch in den Industrieländern abgenommen. Was wollen wir denn mit dem Wachstum?
Werden wir 2020 weiter sein?
Wir sind ja eigentlich schon ziemlich weit. Aber wir tun nicht, was wir wissen. Wir müssen die guten Ansätze weiterverfolgen. Die Erkenntnisse der Nachhaltigkeitsforschung liegen auf dem Tisch, in Berichten der UN stehen hervorragende Perspektiven und Anweisungen zum Handeln – nur, umgesetzt werden vielleicht fünf Prozent davon.
Wie wichtig ist der einzelne Bürger in diesem Prozess?
Sehr. Aber wenn ich das Verhalten der Menschen betrachte, habe ich ein ambivalentes Gefühl. Wir haben gute Ansätze im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements, in Verbraucherorganisationen oder NGOs. Wenn wir diesen individuellen Enthusiasmus nicht hätten, dann wären wir schon an die Wand gefahren. Die eigentlichen Innovationen in der Gesellschaft kommen fast nur aus diesem Bereich. Andererseits gibt es viele Menschen, denen die Zukunft völlig egal ist. Wenn ich diese riesigen SUVs sehen, denke ich immer: Ja, sind wir denn in der Atacama-Wüste? Die verbrauchen zwischen 18 und 24 Liter Benzin, aber die Besitzer kaufen ihre Lebensmittel beim Biosupermarkt. Da verliert man den Glauben an den Verstand der Leute.
Kann die Zukunftsforschung dazu beitragen, die Gesellschaft mitzugestalten?
Unternehmen und Politiker erkennen allmählich, wie wichtig der Blick in die Zukunft ist. Wir können die Zukunft nicht voraussagen, aber wir wissen mehr darüber, als viele Menschen glauben. Dennoch benötigen wir noch mehr Akzeptanz. Es gibt vielleicht fünfoder sechs Institute wie uns, keines da- von wird öffentlich gefördert. Aber es gibt in Deutschland über 3.000 Institutionen, die sich wissenschaftlich mit der Vergangenheit beschäftigen.
Dr. Rolf Kreibich (71) ist Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin, das Politiker und Unternehmen berät. Mit 30 war er bereits Präsident der FU Berlin – also stets früh dran. Auch, was die Zukunft anbelangt, gehört Kreibich zu den anerkannten Vordenkern