Der amerikanische Professor und Sachbuchautor Michael Pollan hat ein simples Rezept, um sich in der Warenwelt im Supermarkt zurechtzufinden: »Essen Sie nichts, was Ihre Urgroßmutter nicht als Lebensmittel erkannt hätte.«
Bei frischem Obst und Gemüse ist diese Frage noch recht einfach zu beantworten, auch die Packung mit dem Orangensaft hätte sich Pollans Oma womöglich ins Körbchen gelegt. Was aber hätte sie zu der Currywurst gesagt, die man nach Entfernung der Folie in einem Plastikschälchen in der Mikrowelle aufwärmt, was zu den Schnitzeln, die man statt in die Pfanne in den Toaster wirft, und was zu den Gemüsestücken in Gummibärchenform?
Fest steht, dass man nicht mal aus einem früheren Jahrhundert kommen muss, um mit der Entwicklung in der Nahrungsmittelbranche nicht mehr Schritt halten zu können. 30.000 neue Produkte werden jedes Jahr lanciert, darunter manche, die mit herkömmlichem Essen erst einmal nicht viel gemein haben: kleine Espressotüten, die sich beim Aufreißen von selbst erhitzen und mit Kaffee füllen, Fertigdöner aus der Tüte, Garnelen, die aus Krebsfleischimitat bestehen, oder Lutscher, die im Mund zu Brause implodieren.
An vieles hat man sich bereits gewöhnt: Dass manche vermeintlichen Säfte statt aus Früchten nur aus Zucker bestehen, dass in Chips haufenweise Geschmacksverstärker stecken und Schweine mit Medikamenten aufgepäppelt werden. Beim Aufzählen der Skandale kommen manche kaum noch hinterher: Rinderwahnsinn, Hühnergrippe, krebserregendes Acrylamid im Lebkuchen – weil die Gefahren anscheinend überall lauern, flüchten sich viele Konsumenten in eine Art Fatalismus: Augen zu und durch. Und manchen bleibt auch keine andere Wahl: Wer nicht genug verdient, um im Bio-Markt zu kaufen, dem bleibt oft nur der Griff zum Wein im Tetrapak, zu den Fertiggerichten aus der Kühltruhe und zum konventionellen Obst, das laut Statistik des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zu einem Großteil durch Pflanzenschutzmittel belastet ist.
Und dennoch: Als vor wenigen Monaten bekannt wurde, dass der Käse, der so schön auf mancher Pizza verläuft, zum Großteil aus Pflanzenfett besteht und der Schinken oft aus Schlachtabfällen – hat das hartgesottenen Konsumenten den Appetit verdorben. Sie fühen sich hintergangen – zumal sie die Rückseite der Etiketten, auf der die Firmen Unmengen von meist künstlichen Zusatzstoffen auflisten, kaum verstehen.
»Ein transparenter Lebensmittelmarkt, mit einem echten Qualitätswettbewerb, in dem der ehrliche Anbieter nicht mehr der Dumme ist« – so beschreibt Thilo Bode das Ziel der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch, die auf ihrer Website (www. abgespeist.de) den täglichen Etikettenschwindel anprangert und schon mal Passanten in der Fußgängerzone ihre Einkaufstüten ausleeren lässt, um auf besonders dreiste Mogelpackungen aufmerksam zu machen.
Zum Beispiel auf die Überdosis Zucker in dem als Gesundheitsdrink beworbenen Jogurt »Actimel« von Danone. Als Foodwatch eine angebliche Feinschmeckersuppe als völlig überteuertes Tütenprodukt entlarvte, gingen Tausende empörter Mails ein. Für den ehemaligen Greenpeace-Chef Bode sind das kleine Siege im Kampf gegen die gigantischen Nahrungsmittelkonzerne, die sich den Markt aufteilen: Der größte davon, Nestlé (Maggi, Herta, KitKat), machte im Jahr 2008 mit weltweit 283.000 Mitarbeitern rund 70 Milliarden Euro Umsatz. Der zweitplatzierte Kraft Foods (Milka, Miracoli, Philadelphia) immerhin noch 30 Milliarden (2008). Auch die Werbeaufwendungen der Firmen sind riesig: 2008 ließ man für einige Milliarden Euro glückliche Kühe mit Glocken läuten oder sportliche Models samt Schokoriegel in die Kamera lachen.
»Es geht immer darum, ein Produkt für den Kunden auf den Punkt zu bringen«, sagt Dag Piper, dessen Meinung Gewicht hat – schließlich ist er der oberste Trendforscher in der europäischen Hauptstadt des Geschmacks – und die heißt schon lange nicht mehr Paris, sondern Holzminden. Mitten in der ostwestfälischen Provinz befindet sich die Zentrale von Symrise, eines weltweit operierenden Aromakonzerns, der in seinen Laboren mit Tausenden von Geschmackskomponenten viele bekannte Markenprodukte »veredelt«, wie es gern heißt: Da wird Joghurt unter Zugabe von Aroma, das aus australischen Holzspänen gewonnen wird, zu Erdbeerjoghurt und unangenehme Beigeschmäcker der Natur mit einem »naturidentischen « anderen Aroma aus dem Reagenzglas übertüncht. Symrise macht aus Geschmäckern Marken. Denn eine Hühnersuppe soll nicht nur wie eine Hühnersuppe schmecken, sondern wie die Hühnersuppe einer bestimmten Marke.
Dass die Konsumenten von langen Zusatzstofflisten und verborgenen Aromen im Essen wenig begeistert sind, macht aber auch Piper nachdenklich. »Natürlichkeit ist ein massiver Trend«, sagt er und fügt an: »Der heutige Konsument ist ein Hybridwesen. Der geht mit seiner Familie am Morgen auf den Biomarkt und am Abend zu McDonald’s.« Die Nahrungsaufnahme im Alltag »vertwittere «: Viele kleine Hunger zwischendurch müssen befriedigt werden – durch mundgerechte Häppchen aus dem Regal mit den Fertigprodukten.
Natürlichkeit liegt im Trend – auch bei Kunstprodukten
Damit die beim kritischer werdenden Konsumenten Absatz finden, braucht es manchmal eine Extraportion Natur: So sollen Gingko, Mandelkern und grüner Tee vielen Produkten einen Touch von Gesundheit und Wellness liefern. Als »Functional Food« muss der Müsliriegel nicht nur satt machen, sondern obendrein fit, wach, schlau und schön. In einer jüngst durchgeführten »Natürlichkeitsstudie « untersuchte Symrise, welche Aromastoffe am ehesten nach Gesundheit schmecken. Denn, so Geschmacksguru Piper: »Es macht ja überhaupt keinen Sinn, ein natürliches Produkt zu haben, das dann nicht schmeckt.«
Ist also alles halb so wild? Können künstliche Aromen und Zusatzstoffe durchaus zu einem vernünftigen Ernährungsmix beitragen? Ersetzen sie nicht sogar das, was durch die industrielle Produktion an Geschmack verloren gegangen ist, wie von den Firmen behauptet wird? Hans-Ulrich Grimm, der die Lebensmittelindustrie schon ein paar Jahre beobachtet und das Buch »Die Suppe lügt« schrieb, ist kritisch: »Man muss sich klarmachen, dass Nestlé, Danone, Symrise und wie sie alle heißen, eher Chemiefabriken und keine Gärtnereien sind. Etwas Natürliches haben und können die nicht.« Für Grimm ist der Fall klar: Die industrielle Herstellung von Lebensmitteln für den Verdrängungswettbewerb im Supermarkt, wo jeder Regalmeter Profit abwerfen muss, verträgt sich nicht mit dem, was Baum, Ähre und grasendes Vieh aus freien Stücken beizutragen haben.
Es ist verboten, Lebensmittel unter irreführender Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung gewerbsmäßig in den Verkehr zu bringen oder für Lebensmittel allgemein oder im Einzelfall mit irreführenden Darstellungen oder sonstigen Aussagen zu werben – so steht es eigentlich recht eindeutig im §11 des Lebensmittelgesetzes. Doch ganz so klar ist die Sache nicht. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Kalbsleberwurst oft nicht aus Kalbsleber besteht, sondern aus Schweineleber und Kalbsfleisch. Vor dem Gesetz gilt das nicht mal als Irreführung. Die Lebensmittelkonzerne verweisen zudem gern darauf, dass sie doch alle Zutaten auf der Verpackung angeben. Ist der Verbraucher also selbst schuld, wenn er die grasende Kuh vorne auf der Packung für bare Münze nimmt, anstatt die Minischrift auf der Rückseite zu studieren? »Die meisten Etiketten kann nur entschlüsseln, wer Lebensmittelchemiker und Sprachwissenschaftler in einem ist und am besten noch das deutsche Lebensmittelgesetzbuch dabeihat«, sagt Martin Rücker von Foodwatch.
So würden etwa Zuckerbomben durch irgendein Wort auf die Endung »-ose« – Glukose, Fructose, Saccharose – kaschiert. Oder die wahre Herkunft der Produkte mit Bioparolen wie »Natur pur« (nicht geschützt) und »kontrollierter Anbau« verschleiert. Foodwatch fordert nun, dass zweifelhafte Zusatzstoffe sofort aus dem Verkehr gezogen und alle anderen Stoffe klar auf der Packung angegeben werden. Was die wichtigsten Nährwerte angeht, soll eine staatlich kontrollierte »Ampel« dem mündigen Verbraucher den Weg weisen: Der sieht dann auf einem Blick, ob der Fett- oder Zuckergehalt auf Rot steht. Doch so weit ist es noch nicht. Noch muss der Konsument selber rätseln, ob sich hinter dem Grillfleisch in Ranchero-Marinade nicht doch eine Portion Gammelfleisch verbirgt. Bei etwa jedem vierten Fleischlieferanten gab es in der Vergangenheit Beanstandungen.
Auf der Südseeinsel erkranken sie an Diabetes
Der Körper des Konsumenten, seit Jahrtausenden auf die Gaben der Natur programmiert, verstehe die Lebensmittelwelt nicht mehr, so Sachbuchautor Grimm. Wenn uns die Natur nur vorgegaukelt werde, sei die Steuerungsfähigkeit des Gehirns beim Essen schachmatt. So komme es etwa zu dem wundersamen Zivilisationsphänomen, dass Menschen gleichzeitig übergewichtig und mangelernährt sind.
Tatsächlich haben Studien ergeben, dass der Geschmacksverirrte Bitteres, das vor Schadstoffen warnen soll, nicht mehr erkennt, weil es mit Geschmacksverstärkern und Aromen verdeckt wird. Er will auch mehr von allem – mehr Zucker und mehr Farbstoffe. Schlimmer noch: Nicht wenige Neurowissenschaftler sagen, das allgegenwärtige Glutamat habe eine verheerende Wirkung. Führt ein direkter Weg vom Supermarkt zu Alzheimer und anderen Krankheiten? »Das Gesamtrisiko ist schwer zu erforschen«, sagt Grimm, »erwiesen ist aber, dass in der Südsee, seit dort die westliche Nahrung Einzug gehalten hat, die Raten bestimmter Erkrankungen schlagartig hochgeschnellt sind. Diabetes zum Beispiel auf der Insel Nauru von unter einem Prozent 1925 auf über 40 Prozent heute.«
Immerhin: Bei manchem Anbieter gibt es mittlerweile ein Umdenken. So hat ein Backproduktkonzern versprochen, seinen »Zitronen-Kuchen«, in dem kein bisschen Zitrone, dafür aber viel des Zusatzstoffs E330 steckt, nicht mehr mit frischen Früchten auf der Verpackung zu bewerben. Derselbe Stoff steckt übrigens auch in anderen Produkten – zum Beispiel in WC-Reinigern.
Unser Autor Oliver Geyer verbrannte bei der Recherche und beim Schreiben insgesamt 8.000 Kalorien – so viel wie bei einem Marathonlauf. Tatsächlich benötigt der Körper bei geistiger Anstrengung oft mehr Energie als beim Sport.