Achtung, Achtung, bitte in Deckung gehen: Der Mann, der gleich das Café betritt, hat einen Body-Mass-Index von 24. Das bedeutet, dass er fast übergewichtig sein müsste. Aber Friedrich Schorb hat keinen zwei Stühle bedeckenden Hintern, er kommt zum verabredeten Interviewtermin durch die Tür gejoggt und er ist ein relativ dünner, ja fast zierlicher Mensch. Er sieht völlig gesund aus – und damit sind wir eigentlich schon mitten im Thema. Friedrich Schorb kämpft gegen die immer wieder aufflammende Behauptung, unsere Gesellschaft würde verfetten. Beim Interview über sein neues Buch essen wir als Zeichen des symbolischen Protests Pflaumenkuchen. Auf dem Tisch liegt die aktuelle Ausgabe eines Wissensmagazins, das passenderweise das Thema Ernährung hat.
In diesem Magazin hier gibt es einen ziemlich alarmierenden Artikel. Ein Mann erzählt, dass er sich fast zu Tode gefressen hat, und dann steht da auch noch, was für Kosten Übergewicht für die Gesellschaft hat. Die Folgeerkrankungen von Fettleibigkeit verschlingen angeblich rund 70 Milliarden Euro im Jahr, das sind etwa 30 % der Gesundheitsausgaben in Deutschland. Unfassbar. Aber stimmt das denn überhaupt?
Das ist diese berühmte Zahl vom Bundesgesundheitsministerium, die kommt aus einer Studie aus dem Jahr 1993. Damals hat man ausgerechnet, dass 30 Prozent aller Krankheiten ernährungsmitbedingt seien, und jetzt addiert man die 30 Prozent einfach auf die aktuellen Kosten im Gesundheitswesen drauf.
Moment. In diesem Artikel steht aber »bedingt« und nicht »mitbedingt«.
Im Original heißt es mitbedingt. Übersetzt bedeutet das: »nichts Genaues weiß man nicht«. Die Krankheiten, die da aufgeführt sind, können durch Ernährung ausgelöst werden, aber eben auch durch andere Faktoren. Man hat zwar so eine vage Idee, dass bestimmte Ernährungsweisen Diabetes mellitus, Knochenerkrankungen und Herz-Kreislauf-Probleme fördern können. Aber man weiß umgekehrt nicht, wie die ideale Diät aussehen könnte, mit der man diese Krankheiten vermeidet. Von daher halte ich diese Zahl für komplett unseriös. Das ist eine reine Zahlenspielerei. Man kann nicht sagen, wenn die Leute zehn Gramm mehr Gemüse essen und zehn Gramm weniger Fett, dann könnte man diese 70 Milliarden einsparen.
Wenn man solche Artikel wie diesen hier liest, dann bekommt man ja schon den Eindruck, dass Dicksein potenziell tödlich ist.
Es gibt natürlich Fälle von extrem Übergewichtigen, wo es auch wirklich gefährlich wird und Menschen im Alltag in ihrer Bewegungsfähigkeit behindert sind, aber das gilt eben nicht für die große Masse der Leute, die nach den gängigen Kriterien als übergewichtig gelten. Außerdem könnte man dasselbe auch über Leute behaupten, die extrem schlank sind. Man nimmt diese Extrembeispiele und generalisiert – und das ist das eigentliche Problem.
Es wird ja behauptet, dass die Zahl der Übergewichtigen zunimmt. Stimmt das denn?
Das ist so nicht ganz richtig. In Deutschland ist es ohnehin komplizierter zu sagen als in anderen Ländern, weil es hier gar nicht so richtig gute Vergleichszahlen gibt. Die erste gute, bundesweite Studie gab es im Jahr 2008, das war die »Nationale Verzehrstudie II«. Richtig alte Daten hat man gar nicht. In den Siebzigerjahren hat man trotzdem behauptet, dass die Hälfte der Deutschen zu dick sei und bei Kindern sei es ganz besonders schlimm. Das kann man mit den heutigen Daten aber gar nicht vergleichen, weil man damals andere Grenzwerte hatte und nur sehr kleine Fallzahlen. In den USA gab es dagegen einen starken Anstieg seit den 80er- Jahren, doch auch dort stagniert die Zahl der Übergewichtigen nach den neuesten Erhebungen seit der Jahrtausendwende. Da hat man einen Höhepunkt erreicht.
Woher kommt Fettleibigkeit eigentlich? Wird sie durch falsche Ernährung verursacht?
Das ist einer der Punkte, an denen es sehr kompliziert wird. Man kann nicht nachweisen, dass Übergewichtige insgesamt mehr Fett oder mehr Süßes essen. Das hat man in der »Ersten Nationalen Verzehrstudie« in den 80er-Jahren versucht und ist zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, dass Übergewichtige sogar weniger Fett und Zucker konsumieren. Vielleicht geben sie auch einfach weniger an, weil sie sensibilisiert sind für das Thema. Aber man kann eben auch nicht das Gegenteil nachweisen. Mittlerweile geht man davon aus, dass es viel zu vereinfacht ist zu sagen, es ist hauptsächlich eine Frage schlechter Ernährung. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel vieler Faktoren, Bewegung natürlich, aber auch die Gene spielen eine wichtige Rolle.
Woher kommt der Reflex einer Gesellschaft, Dicke als krank zu brandmarken?
Ein Grund ist einfach, dass Dicksein als unschick oder unästhetisch gilt, und man will diese ästhetischen Fragestellungen mit gesundheitlichen vermischen. Was ungewollt ist, ist ungesund und damit erübrigt sich auch schon die Debatte, weil man gegen die menschliche Gesundheit nicht argumentieren kann.
Das heißt, es geht um ein Schönheitsideal, das man mit einem gesundheitlichen Vorwand durchsetzen will?
Ja, genau. Es gibt mittlerweile eine ganze Menge Studien, in denen man lesen kann, dass nicht der schlanke Mensch, sondern der mit leichtem Übergewicht die höchste Lebenserwartung hat. Ein BMI von etwa 27 ist ideal, weil es im Alter von Vorteil ist, ein bisschen dicker zu sein. Das ist mittlerweile auch ziemlich gut belegt. Nur wird es nicht so wahrgenommen, weil es ein Idealbild gibt, das sagt: Ein gesunder Körper hat schlank und sportlich zu sein.
Sind Arme denn häufiger dick als Reiche oder ist das auch so eine Zahlenspielerei?
Das ist statistisch gesehen richtig. Interessanterweise werden diese Zahlen aber häufig in dem Kontext verwendet, dass Armut angeblich selbstverschuldet ist. Man sagt dann: Na ja die Unterschicht ist selber schuld an ihrem Elend, die haben nicht zu wenig Geld, denen fehlt einfach die Disziplin, die kümmern sich nicht um ihre Kinder, die kümmern sich nicht um ihre Ernährung, die verwahrlosen, und das sieht man ja schon daran, dass sie übergewichtig sind. Den Vorwurf, der in dieser Betrachtungsweise mitschwingt, halte ich für sehr problematisch.
In unserer Menschenrechte-Ausgabe haben wir die Hartz-IV-Gerichte des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin nachgekocht. Das war richtig eklig ...
(Lacht) Herr Sarrazin wollte ja eigentlich beweisen, dass man sich wunderbar gesund von Hartz-IV ernähren kann. Aber eigentlich ist das Gegenteil herausgekommen. Das Essen war mengenmäßig knapp und alles andere als ausgewogen.
Friedrich Schorbs Buch »Dick, doof und arm? Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert« ist im Droemer Verlag erschienen.