Manchmal scheint es, als ließe sich der Fußball in zwei Epochen einteilen: die Zeit vor Jürgen Klopp und die danach. In der Saison 2010/11, als der Trainer mit Borussia Dortmund erstmals richtig erfolgreich war, veröffentlichten zahlreiche Medien Abgesänge auf die Tyrannen von einst, und die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, dass der Fußball nun „einige gesellschaftliche Entwicklungen mit Verspätung“ vollziehe. Es klang ein bisschen so, als wäre der Fußball ein Staat, der sich endlich seines Diktators entledigt hätte.
Dann kamen sie einem wieder in den Sinn: Trainer-Dämonen wie Ernst Happel, der zu einem seiner Spieler sagte: „Wann’s reden wollen, müssen’s Staubsaugervertreter werden“ und einem Freigeist wie Wolfram Wuttke Waldläufe befahl, während er in der Kabine jubelte: „Ich habe diesen Spieler erniedrigt!“ Alex Ferguson, dessen Credo „Macht und Kontrolle“ lautete und der David Beckham in einem Wutanfall mal einen Schuh an den Kopf kickte. Branko Zebec, der bei Ausdauerläufen knallhart die Runden zählte. Oder Werner Lorant, einst Trainer bei 1860 München, von dem dieser Satz übermittelt ist: „Die Spieler sollen rennen und das Maul halten.“
Das alles war vor Jürgen Klopp. Es müssen finstere Jahre voller Angst und Schrecken gewesen sein. Die Sache ist allerdings: All diese Trainer waren erfolgreich. Und als die Diskussion um den neuen und gutherzigen Trainertypen aufkam, hatte Louis van Gaal, der seinen Spielern zur Veranschaulichung seiner Macht einmal sein sehr großes Gemächt gezeigt hatte, mit den Bayern die Meisterschaft gewonnen und sie ins Pokal- und Champions-League-Finale geführt.
Es stellte sich zudem die Frage: Ist Jürgen Klopp – abgesehen von der Sache mit dem Gemächt – so anders? Lässt er, nur weil er sich nonchalant gibt, im Kollektiv über die Mannschaftsaufstellung entscheiden? Kommt Mats Hummels erst um 17 Uhr zum Training, wenn er am Vorabend zu lange feiern war? Man darf das bezweifeln.
Die Stimme des Torwarts hatte genauso viel Gewicht wie die des Trainers
Einen basisdemokratischen Fußball findet man gegenwärtig in kaum einer Profiliga. Dabei hat es in der Fußballgeschichte immer wieder Versuche gegeben, konventionelle Strukturen aufzubrechen. Anfang der 80er Jahre führte der geniale Spielmacher Sócrates unter dem Eindruck der brasilianischen Militärdiktatur bei seinem Club die „Democracia Corinthiana“ ein. Fortan tobte bei den Corinthians Paulista kein Alleinherrscher in der Kabine, es diskutierte ein Plenum, denn die Mannschaft entschied alles durch Mehrheitsbeschluss. Die Stimme des dritten Torwarts oder des Zeugwarts hatte genauso viel Gewicht wie die des Sportdirektors oder des Mannschaftskapitäns. Dabei ging es mal um vermeintlich banale Dinge wie die Dauer von Trainingseinheiten, die Aufstellung oder die Zubereitung des Mittagessens, häufiger aber um gesellschaftliche Fragen, etwa warum man politische Standpunkte ins Stadion transportieren sollte oder wie sich die Spieler der in Brasilien üblichen Praxis des „concentração“ widersetzen konnten, nach der sie schon Tage vor den Spielen in Hotels einkaserniert wurden, um von äußerlichen Einflüssen abgeschirmt zu werden.
Bis heute ist unbestritten, dass die Corinthians wichtig waren, um die brasilianische Öffentlichkeit gegen den Diktator João Baptista de Oliveira Figueiredo zu mobilisieren. Doch sportlich? Zwar konnte das Team in jener Zeit die Bundesstaatsmeisterschaft gewinnen, die wirklich großen Erfolge feierte der Club aber erst in den Neunzigern, als er dreimal brasilianischer Meister wurde und niemand außer dem Trainer das Sagen hatte. In den vergangenen Jahren formierten sich im Fußball etliche Vereine, deren Gründungen zwar andere Ursachen hatten als die der Corinthians, aber ähnliche Motive. Im Mai 2002 beschloss zum Beispiel der englische Traditionsclub FC Wimbledon, in die Retortenstadt Milton Keynes umzusiedeln. Den Fan Kris Stewart erzürnte die Entscheidung der Cluboberen so sehr, dass er mit anderen Anhängern einen eigenen Verein gründete: den AFC Wimbledon. Um Spieler und Trainer zu gewinnen, führte er Castings durch und ließ alle Entscheidungen im Verein von den Anhängern fällen.
Ähnlich war es beim österreichischen Club Austria Salzburg. Als Red Bull im Jahr 2005 einstieg, machte das Unternehmen aus der Austria eine Art Betriebsmannschaft, tauschte die violettweißen Vereinsfarben gegen Rot-Weiß und änderte den Namen in Red Bull Salzburg. Bei der neu gegründeten Austria übernahm ebenfalls ein Fan von der Basis, Moritz Grobovschek, die Geschicke. Auch er träumte davon, Entscheidungen von unten treffen zu können.
In Mexiko lässt der Drittligist Murciélagos FC die Anhänger über die Aufstellung, Taktik und sogar das Wohl des Trainers abstimmen. Der Initiator Elías Favela sagt dazu: „Die Trainer und die Sportdirektoren sind überbewertet, die wollen uns glauben lassen, dass der Sport komplizierter sei, als er ist.“ Nur: Wie lange kann man überhaupt ein herrschaftsfreies Idyll in einem kapitalistischen System wie dem Fußball aufrechterhalten?
In Salzburg hat Grobovschek seine Aufgaben schon lange abgegeben. Es sei alles zu sehr wie bei einem normalen Fußballverein geworden, hierarchisch und kommerziell. Selbst das Stadion hat mittlerweile einen Sponsorennamen: Es heißt „MyPhone Austria Stadion“. Seit drei Jahren hängt der Verein in der Regionalliga fest. Zumindest der AFC Wimbledon hat eine kleine Erfolgsgeschichte geschrieben: Er kehrte 2011 in die vierte Liga und somit in den Profifußball zurück.
Und ganz oben? Dort bellen die Trainer und Funktionäre heute vielleicht nicht mehr so wie noch vor ein paar Jahren. Manche lassen sich duzen, manche nehmen ihre Spieler in den Arm, und ihr Ego ist nicht mehr so groß wie das der „Sklaventreiber“ (Helenio Herrera) oder „Generäle“ (Louis van Gaal) von einst. Doch vermutlich gilt am Ende immer noch diese Erkenntnis: „Spieler wollen von Trainern gesagt bekommen, was sie zu tun oder zu lassen haben.“ Sie stammt von einem Spieler, der sich im Pokalfinale 1973 gegen den Willen seines Trainers selbst einwechselte. Sein Name ist Günter Netzer.