In seiner „Cosmographei“ schrieb Sebastian Münster 1550 über das Volk der „Züginer“: Es „hat kein vatterland / zeücht also müssig im landt umbhär / erneret sich mit stelen / lebt wie die hund / ist kein religion bey ine“. Würde man Münsters Text in eine moderne Sprache und Rechtschreibung übersetzen – ein großer Teil der Europäer würde ihm noch heute zustimmen.
Seit sieben Jahrhunderten leben Roma in Europa. Die Vorurteile, die ihnen seitdem begegnen, sind fast genauso alt. Ursprünglich aus Indien stammend, kamen Roma wahrscheinlich im 11. Jahrhundert über Persien nach Armenien, dann über Kleinasien in die europäischen Teile des Osmanischen Reichs und von dort aus nach Westeuropa. Freundlich wurden sie in kaum einer Region aufgenommen. Schon 1498 beschloss der Freiburger Reichstag, dass „Zeigeiner“ des Reiches verwiesen werden sollten, da sie angeblich Spione im Auftrag des Osmanischen Reiches seien. Angriffe auf sie sollten fortan straffrei bleiben.
In den nächsten Jahrhunderten entwickelte sich aus den Abgrenzungsversuchen der Europäer ein krasser Rassismus. Im Zuge der Aufklärung und der Schaffung einer europäischen Idee fungierten die „Zigeuner“ dabei als eine Art Gegenbild zur Zivilisation. Die Europäer dichteten ihnen dabei für sie passende kulturelle, religiöse oder soziale Merkmale an, die all dem entsprachen, was Europäer nicht sein wollten. So entstand in der europäischen Literatur das romantisch angehauchte Bild des „Zigeuners“, der unabhängig und emotional ist, unbeherrscht und primitiv.
Das tatsächliche Verhalten der Roma konnte diesen Vorurteilen nichts anhaben. Für Roma typische, eigentlich angesehene Berufe, wie zum Beispiel der Kesselflicker, wussten die Europäer schnell in eine unehrenhafte Ecke zu stellen. Der Umstand, dass diese Metallarbeiter einst für ihre Arbeit von Ort zu Ort zogen, führte zu der Legende, Roma hätten in grauen Vorzeiten die Nägel für Jesus’ Kreuzigung geschmiedet und seien als Strafe dafür zu ewigem Umherziehen verurteilt worden. Christliche Legenden besagten, Roma seien zwangsweise zum „fahrenden Volk“ geworden, als sie der Heiligen Familie Unterkunft verwehrten – unabhängig davon, dass die meisten Roma seit dem 19. Jahrhundert sesshaft lebten.
Mit dem 20. Jahrhundert fanden die Vorurteile dann ihre pseudowissenschaftliche Legitimierung in Abhandlungen, die zeigen sollten, dass „Zigeuner“ unabänderlich asozial und arbeitsscheu seien. Den Höhepunkt erreichte dieses Vorgehen im Holocaust, als die Nazis und ihre Verbündeten eine Vielzahl – Schätzungen zufolge bis zu 500.000 – Roma und Sinti ermordeten. In Deutschland, im Baltikum, in Polen, der Sowjetunion, Ungarn, Serbien und Kroatien. In Auschwitz gab es sogar ein eigenes „Zigeunerlager“. Obschon 80 Prozent der in KZ umgebrachten deutschen Roma katholisch waren, scherte sich auch die Kirche nur wenig um ihre Anhänger, sofern ihre Ausweise mit einem „Z“ gekennzeichnet waren.
Selbst mit dem Ende des „Dritten Reichs“ fand wenig Umdenken statt. Der Bundesgerichtshof beispielsweise legitimierte noch 1956 die Verfolgungen von Roma in der Nazizeit als „sicherheitspolitische und kriminalpräventive“ Maßnahme gegenüber „primitiven Urmenschen“. Erst 1982 erkannte die deutsche Bundesregierung an, dass der Völkermord an den Roma und Sinti in Wirklichkeit aus rassistischen Gründen geschah.
Die Roma sind mit schätzungsweise bis zu zwölf Millionen Menschen Europas größte Minderheitengruppe, und sie sind weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt. Nach einer Umfrage des UN-Entwicklungsprogramms und der EU-Behörde für Grundrechte leben in ost- und zentraleuropäischen Ländern etwa 90 Prozent der Roma unterhalb der jeweiligen nationalen Armutsgrenze. 30 Prozent der Roma sind arbeitslos, jeder fünfte Roma hat keine Krankenversicherung.
Auch wenn es kaum soziale Fortschritte gab, fand im öffentlichen Diskurs über Roma in den letzten Jahren in vielen europäischen Staaten immerhin ein Umdenken statt. Statt die häufig als diskriminierend empfundene Fremdbezeichnung „Zigeuner“ verwenden öffentliche Institutionen und Medien inzwischen immer häufiger den Sammelbegriff Roma, der aus der Sprache Romanes stammt. Einen großen Anteil daran haben die Selbstorganisationen von Roma, die stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.
Acht europäische Staaten riefen 2005 in einer gemeinsamen Erklärung die „Dekade der Roma-Inklusion“ aus und mahnten eine Sensibilisierung gegenüber der Minderheit an. Diese Politik birgt allerdings, bei allen Erfolgen, die Gefahr einer ethnischen Stigmatisierung, bei der Probleme wie Armut und mangelnde Bildung dauerhaft mit den Roma selbst verknüpft werden statt mit der jeweiligen Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Nicht alle Roma sind arm, und nicht alle Armen sind Roma.
Aber auch eine politisch korrekte Sprache kann manchmal nicht über den wahren Inhalt der Wörter hinwegtäuschen: Bei der Diskussion um die Wiedereinführung von Einreisebeschränkungen für Bürger aus Serbien und Montenegro in die EU etwa wird zwar offiziell von einer Eindämmung von Armutsmigration gesprochen. Gemeint sind damit aber eigentlich Einreisebeschränkungen für Roma, die in den vergangenen Monaten vermehrt in der EU Asyl gesucht haben.
Und so leben die Vorurteile in Europa immer weiter. Deutschland schiebt Roma massenhaft in den Kosovo ab. Frankreich weist rumänische Roma in ihr Heimatland aus, obwohl dies nach EU-Recht unzulässig ist. Die rechtsextreme Jobbik ist mit Anti-Roma-Propaganda drittstärkste Partei im ungarischen Parlament geworden. Nach einer Erhebung des Eurobarometers wäre es jedem dritten EU-Bürger unangenehm, wenn sein Kind mit Roma zur Schule gehen müsste. In Tschechien und der Slowakei sind es sogar mehr als die Hälfte.
Wer also noch nach einem Element sucht, das Europa verbindet, hier ist es: Rassismus gegenüber Roma gibt es auf dem gesamten Kontinent.