Zu Lebzeiten führte Amanda Todd eine traurige Existenz, nach ihrem Tod wurde sie zu einer Berühmtheit: Mehr als 14 Millionen Mal wurde ihr Video bisher auf You-Tube geklickt. 8 Minuten und 55 Sekunden lang hält sie 74 Zettel in die Kamera, auf denen sie ihre Geschichte erzählt, die sie letztlich in den Selbstmord trieb. Am 10. Oktober vergangenen Jahres nahm sie sich das Leben.
Die 15-Jährige aus der Nähe der kanadischen Stadt Vancouver wurde ein Opfer von Cybermobbing. Auf ihren Zetteln berichtete sie der Welt, dass sie in der siebten Klasse mit dem Chatten anfing und auf Männer traf, die ihr Komplimente machten. Dass sie einem ein Foto von ihren nackten Brüsten schickte, mit dem er sie später erpresste. Das Bild wurde über das Internet verbreitet, an ihre Schule verschickt und auf Facebook hochgeladen. Amanda wurde gemobbt, gemieden, gehänselt. Mehrmals wechselte sie die Schule, doch die Attacken gingen weiter. Sie nahm Drogen, trank Alkohol, ritzte sich die Arme. Ein Selbstmordversuch nach einem tätlichen Angriff auf sie scheiterte, der zweite gelang. „Ich kann das Foto nie zurückholen. Es wird immer irgendwo da draußen sein.“ So steht es auf einem der Zettel.
Das Internet vergisst nicht. Mobbing-Attacken sind überall und jederzeit für alle sichtbar und erreichen einen weiten Personenkreis. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse war jeder dritte Heranwachsende schon einmal Opfer einer Mobbing-Attacke im Netz und jeder zwölfte nach eigener Aussage selbst schon einmal Täter. „Bei Mobbing im realen Leben unterscheidet man mehrere Gefühlsstufen, bei Cybermobbing gibt es nur zwei: Entweder es ist mir egal, oder ich habe sofort großen Stress damit und empfinde die Situation als sehr belastend“, sagt der Lehrer Marco Fileccia. Er ist Referent der Initiative „Eltern Medien Jugendschutz“ und unterstützt das Projekt Medienscouts NRW, bei dem Schüler in Nordrhein-Westfalen von der Landesanstalt für Medien ausgebildet werden, um unter anderem Mobbing-Attacken bei Mitschülern vorzubeugen.
Die Formen von Cybermobbing sind vielfältig. An erster Stelle stehen laut Techniker-Krankenkasse-Studie Drohungen und Beleidigungen, gefolgt von übler Nachrede, also dem bewussten Verbreiten von Lügen. Außerdem das Anlegen gefälschter Profile in Netzwerken oder das Hochladen peinlicher oder manipulierter Bilder und Videos. Besonders schlimm wird es, wenn sich ganze Gruppen organisieren und zu Online- und Offline-Angriffen verabreden. „Es gibt viele Gründe, warum Mobber andere malträtieren: aus Langeweile, Unbedachtheit, Lustgewinn oder fehlender Emotionsregulation“, sagt Fileccia. Es gebe Typen, die sich überschätzten, denen die Empathie für andere und die Selbstkontrolle fehle, oder welche, die Lust am Machtgefühl hätten.
In einer Studie stellte die Universität Hohenheim 2011 fest, dass es neben den klassischen Tätern und Opfern noch eine dritte Gruppe gibt: die Täter-Opfer, die beide Seiten schon erlebt haben. „Sie nehmen innerhalb der Klasse eine zentrale und vor allem ‚strategische‘ Position ein und haben meist einen großen Freundeskreis“, sagt Ruth Festl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt „Cybermobbing an Schulen“. Sie reagierten aus der Opferrolle heraus, um sich quasi zu rächen. Diese Racheaktionen müssten sich nicht notwendigerweise gegen die vorherigen Täter, sondern könnten sich gegen andere, vermeintlich noch Schwächere richten.
Das Wichtigste ist, darüber zu sprechen
Tina von Juuuport, einer Selbstschutz-Plattform im Netz, glaubt, dass viele Mobber sich über die Auswirkungen ihres Handelns nicht im Klaren sind. „Vor allem junge Leute wissen nicht, dass sie sich strafbar machen können, wenn sie beispielsweise gegen die Bildrechte von anderen verstoßen“, sagt die 21-Jährige. Auf Juuuport antworten geschulte Jugendliche und junge Erwachsene von zu Hause aus auf die Anfragen von Gemobbten. Hier finden sich auch Foreneinträge wie der von Jani, der ein zweites Profil von sich auf Facebook samt Foto entdeckt hat. „Ich finde das so fies, kann mir nicht vorstellen wer so was machen könnte? Wie kann ich beweisen, dass ich nicht ,ich‘ bin?“
Missbrauch melden und den Eltern Bescheid geben, antworten einige. Melissa vom Juuuport-Team rät, einen Screenshot vom Fake-Profil zu machen und Freunde und Bekannte zu informieren, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen. „Fünf bis zehn Anfragen bekommen wir in der Woche von Leuten zwischen 15 und 18 Jahren“, sagt Tina. Die Medieninformatikstudentin arbeitet seit drei Jahren bei Juuuport. „Weil wir jung sind, können wir uns zum Teil besser in die Gemobbten hineinversetzen und schreiben lockerer als Erwachsene, was die Hürde minimiert.“
„Nicht die Opfer tragen die Schuld, sondern die Täter. Das muss immer klar sein“, sagt der Lehrer Fileccia. „Wichtig ist, mit einer Vertrauensperson über das Erlebte zu sprechen. Für den einen Betroffenen kann es richtig sein, mit dem Täter zu sprechen, für den anderen genau das Gegenteil, nämlich ihn zu ignorieren.“ Deshalb sei es wichtig, dass das Opfer immer über das „Wie“ entscheiden sollte und die Bestrafung der Täter erst an zweiter Stelle stehe. Letztere hatten 2011 besonders viel Spaß dabei, sich auf der Internetseite „Isharegossip“ über andere auszulassen. Diskutiert wurde bis zum Abschalten der Seite – vermutlich durch einen Hackerangriff – über „die größte Schlampe“ und den „hässlichsten Jungen“ einer Klasse. Zeitweise erreichte die Plattform bis zu 10.000 Nutzer gleichzeitig. Die Mehrzahl der Beleidigten waren Schülerinnen, und die Seite wurde überwiegend von Gymnasiasten besucht. Schulpsychologen vermuteten damals, dass die sich vor offenen Konfrontationen scheuten und deshalb indirekte Wege suchten, um Konflikte auszutragen. Die Betreiber von Isharegossip hatten damals versprochen, keine IP-Adressen zu speichern.
Durch die Rachlust gibt es neue Opfer
Mobbing im Netz kann jeden treffen, und oft kennen sich Täter und Opfer. Der Auslöser und die Gründe für Cybermobbing sind so vielfältig wie die Formen: Neid, Rachegefühle, unglückliche Liebesbeziehung oder fehlende Anerkennung. Für gewöhnlich kommen mehrere Faktoren zusammen. Wenn beispielsweise Fotos oder Pinnwandeinträge abwertend kommentiert werden und sich daraus plötzlich ein Streit entwickelt, der Kreise zieht. „Oft hat es mit dem ,Anderssein‘ zu tun: andere Klamotten, Haare oder anderes Verhalten als die Mehrheit“, sagt Fileccia.
In diesem Sinne anders war auch der 18-jährige Student Tyler Clementi aus New Jersey, der sich 2010 nach einer Mobbing-Attacke das Leben nahm. Sein Mitbewohner hatte ihn heimlich dabei gefilmt, wie er einen Freund küsste und die Nachricht via Twitter verbreitet. Kurz darauf hinterließ der Student auf Facebook eine Abschiedsbotschaft und sprang von einer Brücke in den Hudson River. Sein Peiniger wurde im Mai 2012 zu 30 Tagen Gefängnis plus 3 Jahren auf Bewährung und rund 12.000 Dollar Strafe verurteilt.
Und noch ein weiterer Fall erschütterte 2012 die Netzgemeinschaft. Der 20-jährige Tim Ribberink aus den Niederlanden nahm sich im November das Leben. Seine Eltern gingen an die Öffentlichkeit und zitierten in der Traueranzeige aus seinem Abschiedsbrief: „Lieber Pap und Mam, ich wurde mein ganzes Leben lang verspottet, gemobbt, gehänselt und ausgeschlossen. Ihr seid fantastisch. Ich hoffe, dass ihr nicht sauer seid. Auf Wiedersehen, Tim“. Und manchmal sorgt die Rachlust für neue Opfer. So hatte die Gruppe „Anonymous“ kurz nach Amanda Todds Selbstmord den Namen, die Adresse und weitere Daten eines Mannes veröffentlicht, der sie in den Tod getrieben haben soll. Es gab Drohungen und Beleidigungen gegen ihn, aber letztlich stellte sich raus, dass der Mann der falsche war.