Walid Amri trägt neue, blau glänzende Turnschuhe. Er hat sie gleich nach der Ankunft auf Lampedusa gekauft. Unterwegs auf dem Meer hatte er seine durchnässten Schuhe weggeworfen.
Lampedusa liegt 130 Kilometer von Tunesien und mehr als 200 Kilometer von Sizilien entfernt. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs, geologisch gehört sie zu Afrika. Im Osten des Hafens thront die Zentrale der Küstenwache, im Westen befindet sich die militärische Sperrzone. Dorthin werden die ankommenden Flüchtlingsboote gelotst. Dazwischen ist der Schiffsfriedhof: Holzkähne, die auf die Steine gelaufen sind, liegen schräg nebeneinander. Bunt bemalt, auf einigen steht der Name ihrer Herkunftsstädte in Afrika.
Amri klettert auf ein größeres Schiff mit einer Führerkabine. Mit so einem ist er auf dem Mittelmeer unterwegs gewesen, bis der Regen einsetzte, und der Motor ins Stottern geriet. Die Küstenwache hat ihn schließlich gerettet. Amri ist 24 Jahre alt und kommt aus Sidi Bouzid im Inland von Tunesien. Es gibt dort wenig Arbeit, man sitzt herum, trinkt Kaffee, raucht Zigaretten. „Ich bin Friseur“, sagt Amri, „an einem Tag habe ich einen Job, am anderen nicht. In zwei Jahren habe ich 1.000 Euro gespart.“
1.000 Euro für die Fahrt in eine bessere Welt – nach Europa. Amri rief eine geheime Telefonnummer an und reiste in die Hafenstadt Zarzis, von wo aus das Schiff in der Nacht ablegte, wie die meisten Kähne ziemlich überladen. „Wir waren 100 Personen, und die Fahrt dauerte 24 Stunden.“ Hatte er keine Angst? „Nein. Über das Leben und den Tod entscheidet Gott. Ich suche nur die Freiheit.“
Lampedusa ist ein Ort, an dem die Außengrenze der EU sichtbar wird. Ein Außenposten im Mittelmeer. 5.000 Einwohnerinnen und Einwohner leben auf der kleinen Insel, die meisten von der Fischerei und dem Tourismus. In den vergangenen Jahren strandeten immer mehr Flüchtlinge aus Afrika an der Küste, in der Hoffnung auf Asyl in Europa. Tausende junge Tunesier haben den demokratischen Aufbruch in den nordafrikanischen Staaten zum Anlass genommen, um wie Amri ihre eigene Vorstellung von der Freiheit zu verwirklichen: Auf brüchigen Barken haben sie die gefährliche Überfahrt übers Mittelmeer gewagt. Auf Lampedusa aber wartet erst einmal nicht die Freiheit, dort warten 500 Polizisten, die auf der Insel im Einsatz sind. Carabinieri fahren in Jeeps mit Blaulicht durch die Stadt, um die ankommenden Flüchtlinge in ein Lager zu schaffen.
Schengen und Dublin
Die Bürgerinnen und Bürger der 27 Mitgliedsstaaten dürfen sich überall in der EU niederlassen, sofern sie über eine Arbeitsstelle oder einen Studienplatz verfügen. Wer keiner Arbeit nachgeht, in Rente ist oder studiert, muss nachweisen, dass er vom eigenen Einkommen oder Kapital leben kann und eine Krankenversicherung besitzt. Alle, die aus einem Nicht-EU-Land kommen, haben es schwer, hier eine neue Heimat zu finden. Als Nicht-EU-Bürger darf man sich laut Schengener Abkommen nur in Europa niederlassen, wenn man über eine spezielle berufliche Qualifikation verfügt, die der Wirtschaft eines EU-Landes nützt – oder wenn man politisch verfolgt wird. Nach der Schoah, dem Völkermord an den Juden durch die Nationalsozialisten, haben die Vereinten Nationen 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention erlassen: Als Flüchtling gilt jeder, der wegen seiner politischen Überzeugung, Staatszugehörigkeit, Rasse oder Religion verfolgt wird. Im Vertrag von Dublin haben jene Staaten der EU sowie die Nicht-EU-Staaten Norwegen, Island und die Schweiz schließlich festgelegt, dass der Staat ein Asylgesuch zu behandeln hat, den ein Flüchtling zuerst betritt. Weil wenige Flüchtlinge mit dem Flugzeug in Paris oder Berlin landen, wurde das Problem also in die südeuropäischen Länder am Mittelmeer ausgelagert: nach Spanien, Italien oder Griechenland.
Schengen und Dublin, das sind vor allem zwei Datenbanken: Das Schengener Informationssystem SIS speichert alle Daten von Personen, gegen die eine Einreisesperre in den sogenannten Schengenraum verhängt wurde, weil sie ohne Visum in die EU gekommen sind. In der Datenbank Eurodac wiederum werden die Fingerabdrücke aller sich illegal im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten aufhaltenden oder bei der illegalen Überschreitung einer Außengrenze eines Mitgliedsstaats angetroffenen Asylsuchenden gespeichert. So soll sichergestellt werden, dass sie in keinem weiteren Mitgliedsstaat ein Gesuch stellen können, nachdem es in einem Land abgelehnt wurde. Oder es noch einmal im selben Land probieren. Manche nehmen die lebensgefährliche Reise nach einer Abschiebung tatsächlich mehrmals auf sich.
Die Grenze als Geschäft
Das Glashochhaus ist 40 Stockwerke hoch und steht mitten im boomenden Geschäftsviertel von Warschau. Als Gast muss man durch eine Kontrolle, dann durch eine Metallschleuse, anschließend wird die Iris im Auge geprüft. Schließlich begrüßt einen der Exekutivdirektor der Grenzschutzagentur Frontex, der Finne Ilkka Laitinen. Von seinem Büro im 22. Stock ist die Aussicht schwindelerregend. Weit unten in der Tiefe, aber gut sichtbar haben Politaktivisten wenige Tage zuvor in weißen Lettern „Frontex kills“ auf ein Hausdach gemalt. „Wir leben in einem Zeitalter der Meinungsfreiheit“, sagt Laitinen und schaut ernst durch die randlose Brille.
Frontex soll die Überwachung der EU-Grenze koordinieren. Dazu sammelt man alle Informationen über die Situation vor Ort – von dort, wo die Boote stranden, die Zäune stehen, sich die Menschen im Unterholz verstecken. Aus den Daten macht Frontex Risikoanalysen und empfiehlt den Staaten, Personal und Material an jene Orte zu schicken, wo gerade besonders viele Flüchtlinge versuchen, in die EU zu gelangen. Dabei helfen sich die Mitgliedsstaaten gegenseitig: Bei der Operation Hermes beispielsweise wird Italien rund um Lampedusa von zahlreichen Staaten unterstützt, darunter auch Deutschland.
Die Grenze bedeutet Risiko und Gefahr, aber sie bedeutet auch ein großes Geschäft, wie Laitinen unumwunden einräumt: „Grenzüberwachung und Grenzkontrolle sind ein wachsendes Geschäft: Überwachungskameras, Wärmebildkameras oder Satelliten werden immer benutzerfreundlicher.“ 110 Millionen Euro investiert die Europäische Union in ihrem laufenden Forschungsprogramm in die Grenzüberwachung und Grenzkontrolle. „Wir fördern den Austausch zwischen der Industrie, der Wissenschaft und den Grenzwächtern“, sagt Laitinen. Organisiert von der Agentur, die 2005 ihre Arbeit aufnahm, findet jedes Jahr der „European Day for Border Guards“ statt, an dem sich die nationalen Grenzwachtruppen mit Sicherheits- und Rüstungsfirmen treffen, darunter Marktführer wie EADS oder Thales. Die Presse erhält keinen Zutritt.
Bewaffnete Silhouetten
Auf Lampedusa ahnt Walid Amri allmählich, dass er von der Freiheit noch weit entfernt ist. „Für die jungen Europäer ist es einfach zu reisen. Wir aber haben kein Recht zu reisen, ich habe noch nicht einmal einen Pass.“ So hat er sich das Recht eben selbst genommen.
Von Lampedusa will er weiter nach Frankreich. Auch die Schweiz könnte er sich vorstellen. „Ich liebe die Schweiz, ich liebe Roger Federer!“ Im Gespräch mit anderen Flüchtlingen auf Lampedusa wird klar: Es gibt viele Gründe für die Flucht. Einige Männer sind aus ökonomischen, andere aus politischen Gründen hier, wieder andere wegen ihrer sexuellen Orientierung. In Afrika gibt es Staaten, in denen Homosexuellen die Todesstrafe droht. Auffällig ist, dass es wenige Frauen nach Europa schaffen: Sie schreckt die Grenze besonders ab.
Das Lager von Lampedusa liegt in einem Talkessel. In der Nachmittagshitze bringen Tankwagen Wasser ins Lager, auch ein Krankenwagen mit Blaulicht fährt vorbei. Wenn man von einem der Hügel auf das Lager blickt, sieht man im Gegenlicht Carabinieri, die patrouillieren. Bewaffnete Silhouetten.
Es ist schwer, Informationen über die Situation im Lager zu bekommen. Ein Mitarbeiter eines Hilfswerks, der seinen Namen nicht nennen will, berichtet, dass das Lager aus allen Nähten platze. „Es ist nur für 850 Menschen Platz. Im Moment sind darin dreimal so viele untergebracht.“ Zu trinken gebe es genug, doch das Essen sei knapp. Einige der Eingesperrten seien psychisch angeschlagen, die Strapazen der gefährlichen Überfahrt haben viele nicht verarbeitet.
Die stille Katastrophe
Auf seinem Blog „Fortress Europe“ (Festung Europa) dokumentiert der italienische Journalist Gabriele del Grande Meldungen über Menschen, die beim Versuch, nach Europa zu gelangen, ihr Leben verloren haben oder als vermisst gelten. Die Zahlen, die er zusammengetragen hat, zeigen das Ausmaß der stillen Katastrophe: Seit 1988 sind 18.673 Menschen gestorben. 2011, dem bisher schlimmsten Jahr, wurden laut Fortress Europe 2.352 Menschen als tot oder vermisst gemeldet. „Eines Tages werden auf Lampedusa und in Zuwara, am Evros (dem Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei), auf Samos, in Las Palmas und in Motril Gedenktafeln stehen mit den Namen der Opfer aus diesen Jahren der Unterdrückung der Bewegungsfreiheit“, schreibt del Grande. „Wir werden unseren Enkeln nicht sagen können, dass wir davon nichts gewusst hätten.“
Die Staaten an der Außengrenze werden bei der Betreuung der Flüchtlinge „überproportional beansprucht und vielfach überfordert“, schreibt die deutsche Stiftung Pro Asyl. „Flüchtlinge werden ... zu Obdachlosen gemacht, erleben schlimmste Armut und Übergriffe.“ Pro Asyl fordert deshalb, dass Asylsuchende selbst bestimmen können, in welchem europäischen Staat sie ein Asylgesuch stellen.
Doch die offizielle Politik setzt auf noch stärkere Abschottung. Im Glashochhaus in Warschau skizziert Frontex-Direktor Laitinen die beiden nächsten Projekte für eine bessere Überwachung der Außengrenze: das biometrische Entry-Exit-System EES, das automatisch Alarm schlagen soll, wenn die autorisierte Aufenthaltsdauer einer Person, die in die EU eingereist ist, abgelaufen ist. Und das Projekt Eurosur, bei dem die Satelliten, Radare und Drohnen miteinander verknüpft werden, um das Mittelmeer ständig zu überwachen. Und die Situation der Flüchtlinge? Laitinen zögert keine Sekunde. „Wir messen bei unserer Arbeit der Wahrung der Menschenrechte große Bedeutung zu.“
Welche Vision setzt sich durch? Die eines sich abschottenden oder die eines offenen Europas? Ein Jahr nach der Begegnung auf Lampedusa meldet sich Walid Amri mit einem Lebenszeichen: Er hat sich nach Berlin durchgeschlagen.
Kaspar Surber arbeitet als Redakteur bei der Schweizer Wochenzeitung „WOZ“. Im Echtzeit Verlag ist von ihm das Buch „An Europas Grenze. Fluchten, Fallen, Frontex“ erschienen.