Ehe sie wirklich beginnen konnte, brach die Demokratie fast lautlos zusammen. Für den 28. Mai 1967 waren in Griechenland Neuwahlen angesetzt, und nach langen Jahren rechtsgerichteter Regierungen, die vor staatlichem Terror nicht zurückschreckten, zeichnete sich ein Sieg der demokratischen und linken Parteien ab. Doch in der Nacht vom 20. auf den 21. April schlug das Militär zu. Eine Gruppe von Offizieren, angeführt von Oberst Georgios Papadopoulos, übernahm die Macht. Noch in derselben Nacht ließ sie mehrere Tausend Menschen festnehmen: Parteiführer, Abgeordnete, Journalisten. Sieben Jahre dauerte die Diktatur der sogenannten Obristen. Unzählige Kommunisten und Demokraten, echte und vermeintliche Widerstandskämpfer wurden ins Exil getrieben, in Gefängnisse geworfen, gefoltert.
Eine Diktatur in Europa, das wirkt ganz weit weg. Aber vor nicht einmal 40 Jahren war es in manchen süd- und osteuropäischen Ländern Normalität. Als die Obristen in Griechenland putschten, herrschte in Spanien seit 1939, seit dem Ende des Bürgerkriegs, „El Caudillo“, der Führer Francisco Franco, der selbst ernannte Generalísimo. Im Nachbarland Portugal hatte „O Doutor“ António de Oliveira Salazar, der Despot im Professorenornat, schon fünf Jahre zuvor mithilfe des Militärs die Macht an sich gerissen und nicht mehr losgelassen.
Griechenland, Portugal, Spanien – diese jungen Demokratien leiden immer noch an den Folgen der Diktaturen, denn eine Auseinandersetzung mit der problematischen Vergangenheit fand kaum oder erst sehr spät statt. Nach der Demokratisierung, die innerhalb eines Jahres, von 1974 – 75, in diesen Ländern erfolgte, strebten sie in das vereinte Europa, in die damalige Europäische Gemeinschaft. So schnell wie möglich. Debatten über Schuld und Aussöhnung waren da eher lästig. Noch heute sind die Gräben, die die Diktatoren in die Gesellschaften hineingepflügt haben, sichtbar.
In Portugal sollte António Salazar eigentlich das Land heilen. Bis 1928 hatten 22 Staatsstreiche und 40 Regierungen in 16 Jahren sowie 134 Millionen Dollar Auslandsschulden den Staat an den Rand des Ruins gebracht. Deswegen holten die Militärs den Ökonomieprofessor erst ins Finanzministerium und machten ihn vier Jahre später zum Präsidenten. Salazar wollte einen neuen Staat, den Estado Novo, installieren. Das tat er mithilfe eines komplexen und auf totale Überwachung ausgerichteten Repressionsapparats. Portugal war jahrzehntelang ein „Königreich der Stille“, wie es der Regimekritiker Mário Soares beschrieb.
Massengräber hinterließ Salazar nicht, als er 1968 über einen Liegestuhl stolperte und starb. Aber ein wirtschaftlich daniederliegendes Land. Das Regime zuckte noch ein wenig, bis die sogenannte Nelkenrevolution 1974 die Demokratie nach Portugal brachte. Salazars wirtschaftlicher Protektionismus, sein Widerstand gegen eine Politik der Industrialisierung und kostspielige Kolonialkriege hätten zur Verarmung des Landes und damit zu einem der niedrigsten Lebensstandards in Europa geführt, schreibt die Historikerin Ursula Prutsch. Tatsächlich waren 40 Prozent der Portugiesen damals Analphabeten.
Zwar erzielte Portugal enorme gesellschaftliche Fortschritte nach 1974, doch das Wirtschaftssystem blieb fragil, die industrielle Basis dünn. Das hinderte 41 Prozent der Einwohner nicht, in einer Fernsehsendung 2007 António Salazar zum größten Portugiesen der Geschichte zu wählen.
Das wäre in Spanien mit Francisco Franco undenkbar. Der selbst ernannte Führer war ungleich brutaler. Franco ging als Alleinherrscher aus dem Bürgerkrieg gegen die Republikaner von 1936 bis 1939 hervor. Der Krieg verwüstete das Land, im Anschluss erfolgte das große Töten: Zwischen 1939 und 1949 wurden 50.000 Menschen exekutiert. Der kleine Generalísimo sicherte seine Macht mit 194 Konzentrationslagern und 200 Gefängnissen. Die Gesellschaft wurde gespalten in Sieger und Besiegte.
Danach ging es Franco, ähnlich wie Salazar, vor allem darum, Ruhe herzustellen. Auch die Methoden waren fast identisch. Ein patriarchalisches und protektionistisches Wirtschaftssystem sollte, zusammen mit unnachgiebiger Zensur und Überwachung, jeden politischen Protest im Keim ersticken. Als Franco 1975 mit 82 Jahren einem Herzinfarkt erlag, brach auch das Regime zusammen. Zwar hatte Spanien in den 60er Jahren sein eigenes kleines Wirtschaftswunder erlebt (Franco öffnete das Land, und Tausende Touristen, vor allem Deutsche, strömten jedes Jahr an die Costa del Sol oder nach Mallorca – mit viel Geld in den Taschen). Im Landesinneren aber hatte immer noch nur ein Drittel der ländlichen Haushalte fließendes Wasser. Mit der Ölkrise 1973 endete das Wirtschaftswunder, und der Zerfall begann.
Der Tod Francos katapultierte Spanien in die Moderne. Politisch reformierte sich das Land von Grund auf. Es entwickelte eines der sozial dynamischsten Gemeinwesen Europas, führend bei Reformen wie Homo-Ehe oder Geschlechtergerechtigkeit. Auch wirtschaftlich tat sich viel. Die Inflation bekam man in den Griff, und mit einer neuen Steuerpolitik wurden Einkommen gerechter verteilt. Über das Franco-Regime und seine Gräueltaten wurde mehr oder weniger einvernehmlich geschwiegen. Als die Immobilienblase 2008 platzte, zeigte sich, dass das Land für eine globalisierte Wirtschaft nicht gerüstet war. Erst drei Jahre zuvor hatten Arbeiter die sieben Meter hohe Franco-Statue auf der Plaza de San Juan de la Cruz in Madrid abgebaut.
Statuen der Obristen sind in Griechenland nicht zu finden. Sie prägten ihr Land nicht so stark wie Franco und Salazar, sie herrschten nicht für Jahrzehnte. Und als ihr Regime fast so plötzlich verschwand, wie es gekommen war, nachdem die Türkei einen Teil der Insel Zypern besetzt hatte, schrieb „Der Spiegel“ einen Nachruf auf „eine Diktatur, die weder eine Ideologie hatte noch dem Volk politische Perspektiven weisen konnte; ein hohles, auf schiere Machtausübung und sonst nichts ausgerichtetes Staatswesen.“
Doch leider passt diese Einschätzung auch auf die folgenden, demokratisch legitimierten Regierungen, wie es Vassiliki Georgiadou, Politikwissenschaftlerin in Athen, beschreibt. Mit der (korrekten) Behauptung, sie sei jahrzehntelang von der Machtausübung ausgeschlossen worden, besetzte die sozialistische PASOK-Partei den Staat und erklärte die Parteimitgliedschaft zur Voraussetzung für Posten im öffentlichen Dienst. Dasselbe verkündete die konservative Nea Dimokratia, als sie nach den ersten freien Wahlen an die Macht kam. Sparmaßnahmen und Wirtschaftsreformen wurden lange kaum angegangen. Die Parteien fürchteten den Widerstand ihrer Wähler. Man wollte nicht durch Streichungen alte Wunden aufreißen und Unruhen provozieren. Die Produktivität blieb genauso auf der Strecke wie die Vergangenheitsbewältigung. „Griechenland hat weder die Militärdiktatur noch den Bürgerkrieg nach dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Wir beschäftigen uns viel zu viel mit der Antike und der Gründung des griechischen Staates, alles andere wird ausgeblendet“, sagt die Politikwissenschaftlerin Georgiadou.
Die Folgen treten in der Wirtschaftskrise deutlicher zutage als zuvor: Laut einer Umfrage Anfang 2013 sehnt sich mittlerweile knapp ein Drittel der Griechen nach der Stabilität des Obristen-Regimes zurück. Vor allem ältere Menschen verstehen nicht, dass es ihren Nachkommen schlechter geht als ihnen früher in der Diktatur. Dass die an den Problemen von heute eine Mitschuld trägt – das wird vielen Griechen erst allmählich bewusst.