Dr. phil. Silja Matthiesen ist Projektleiterin am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind das Sexualverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Jugendschwangerschaften und sexualwissenschaftliche Geschlechterforschung. Für eine Interviewstudie sprach sie mit 160 Jugendlichen über deren Erfahrungen mit Liebe, Sex und Pornografie.
fluter: Durch die Medien geistert seit Jahren die sogenannte Generation Porno: eine Jugend, die schon früh und heftig Sex hat. Ein Pfarrer hat sogar ein Buch über diese sexsüchtige Jugend geschrieben mit dem Titel „Deutschlands sexuelle Tragödie“. Treibt es die Jugend wirklich so doll?
Silja Matthiesen: Man kann das an verschiedenen Faktoren aufhängen: Fangen die Teenager früher an? Haben sie wahllos Sex mit verschiedenen Partnern, und leidet darunter die Aufmerksamkeit für die Verhütung? Die Antworten darauf finden sich in deutschen und internationalen Studien und zeigen, dass das so nicht stimmt. Das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr liegt zwischen 16 und 17 Jahren und ist seit den 70er-Jahren fast gleich geblieben. Immer mehr Sex haben die Jugendlichen auch nicht, im Gegenteil: Im Wesentlichen suchen Jugendliche Sexualität in festen Beziehungen. Da unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von Erwachsenen oder von Jugendlichen früher.
Woher kommt dann der Widerspruch zwischen dem Vorurteil und der Realität?
Vor der Aufregung um die pornosüchtige Jugend gab es ja die Aufregung um ungewollte Teenagerschwangerschaften. Auch da zeigen sehr solide Daten, dass es überhaupt keine Zunahme gegeben hat, im Gegenteil. Früher gab es auch mal die Sorge um zu viel Masturbation, das ist quasi ein Vorläufer der heutigen Debatten. Dass sich Erwachsene um Jugendsexualität Sorgen machen, ist eine kontinuierliche Erscheinung.
Ist diese Sorge um die Jugend nicht scheinheilig? Angesichts der Lust, mit der sich einige Medien über Jugendsexualität auslassen, wirkt manche Schlagzeile schon fast wie das Wunschdenken notgeiler Erwachsener.
Die Rolle der Medien ist da in der Tat fragwürdig. Aber warum ohne Grundlage von einer „Generation Porno“ oder ungewollten Schwangerschaften berichtet wird, ist ja klar: Das verkauft sich gut. „Jugendschwangerschaften in Deutschland nehmen seit zehn Jahren leicht, aber kontinuierlich ab“ – mit so einer Schlagzeile verkauft sich keine Zeitung.
Statt einer übersexualisierten Jugend zeigen Studien eher das Bild von kuscheligen Teenagern, die häufig sogar romantische Ideale haben. Liegt das vielleicht daran, dass vielen Jugendlichen von den Eltern Patchworkverhältnisse mit wechselnden „Lebensabschnittsgefährten“ vorgelebt werden und sie sich in Abgrenzung dazu ein kleinbürgerliches Ideal wünschen?
Man muss anerkennen, dass sich Jugendliche Sexualität vor allem in Liebesbeziehungen wünschen. Das ist ja nicht kleinbürgerlich. Diese Wünsche werden nicht in einer Langzeitpartnerschaft, sondern in seriellen Beziehungen gelebt – also in kurzen, festen Beziehungen hintereinander. Man verliebt sich ja eher selten mit 15 und ist dann vier Jahre zusammen. In der Lebensphase von 13 bis 18 haben Jugendliche im Durchschnitt zwei bis drei feste Beziehungen hintereinander. Tendenziell werden die Beziehungen mit zunehmendem Alter länger.
Wie gehen die Jugendlichen damit um, dass sich Ältere zunehmend jugendlich und sexy inszenieren? Wenn sie also mit Müttern konfrontiert sind, die sich die Schamhaare rasieren, Tätowierungen und hohe Stiefel tragen. Will man als Kind nicht immer vermeiden, mit dem Sex der Eltern konfrontiert zu werden?
Nicht mehr so stark wie früher, als das Entwickeln einer eigenen Sexualität noch stark zur Loslösung von der Familie gehörte. Damals fand der Sex heimlich und in Abgrenzung zu den Eltern statt. Mittlerweile ist Jugendsexualität ziemlich eingebettet in einen familiären Kontext. Den ersten Sex erleben viele Jugendliche heute zu Hause. Da sind sie mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner im Bett, und die Eltern wissen und tolerieren das. Das entlastet von Heimlichkeiten, was auch gut für die Verhütung ist. Denn wenn Jugendliche heimlich und spontan Sex haben, ist sichere Verhütung schlechter zu managen, als wenn es ganz entspannt und planbar zugeht. Eine neue Frage ist, wie man sich abgrenzt von den Eltern und wie man seine Privatheit organisiert. Dass der eigene Freund morgens der Mutter im Bad begegnet, will man vielleicht doch nicht.
„Das Risiko einer Hauptschülerin, schwanger zu werden, ist fünfmal so hoch wie das einer Gymnasiastin“
Gilt das auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund?
Es kommt darauf an, wie traditionell das Elternhaus ist. Aber sicher können zum Beispiel viele muslimische Jugendliche ihre Sexualität nicht so locker vor den Augen der Eltern ausleben. Viele Kulturkreise verbieten den Frauen ja auch Sex vor der Ehe, das hat für deutsche Jugendliche gar kein Gewicht mehr. In solchen Familien steht der Sex nach wie vor im Kontext von Heimlichkeit. Man muss sich ja nur fragen, was die Schwangerschaft für eine junge Frau bedeutet, die ihren Eltern gar nicht sagen kann, dass sie Sex hat.
Wie sieht es eigentlich mit der Verhütung aus?
Grundsätzlich verhüten Jugendliche so gut wie nie zuvor, und auch im internationalen Vergleich steht Deutschland sehr gut da. Viele Jugendliche benutzen ein Kondom, die Pille oder andere hormonelle Verhütungsmittel. Daher sind auch die Raten der Jugendschwangerschaften niedrig und leicht rückläufig. Jugendschwangerschaften hängen übrigens stark mit sozialen Faktoren zusammen. Das Risiko einer Hauptschülerin, ungewollt schwanger zu werden, ist tatsächlich fünfmal so hoch wie das einer Gymnasiastin.
Jugendliche wissen heute viel über Verhütung, sie wollen eher keine One-Night-Stands, sondern romantische Liebesbeziehungen. Woher kommt diese Vernunft?
Der Zugang zu Sexualität und die Aufklärung finden über viele Wege statt. Man kann entspannt mit den Eltern reden, es gibt Jugendmedien, das Internet, die Schule, viele Möglichkeiten also und wenig Verbote. Sexualität ist nicht mehr so stark im Feld von Rebellion und Aufbegehren verhaftet. Stattdessen gibt es eine Botschaft für Jugendliche: „Macht, was ihr wollt, aber achtet darauf, ob ihr es wirklich wollt.“ Gerade beim One-Night-Stand denken viele: Kann man machen, meine Erfahrung oder Vermutung ist aber, dass es so toll nicht ist.
Kann man sagen, dass sich Jugendliche heute Sex aus Liebe wünschen?
„Ich wünsche mir Liebe, weil ich die Vermutung habe, dass der Sex dann schöner ist.“ Das ist das Leitmotiv bei vielen. Im Gegensatz dazu zeigt ein Porno Sex ohne Gefühle. Das hat auch mal was, das reizt die Neugier. Aber der Sex mit Gefühl, also mit einem Partner, in den man verliebt ist, ist gehaltvoller, vertrauensvoller, schöner. Die Jugendlichen merken, dass sie die Wahl haben: Entweder gehen sie auf die Party und stürzen mit jemandem ab, oder sie warten lieber.
Es heißt ja immer, dass Jungs, die viel Pornografie schauen, vieles im Bett nachspielen wollen. Stimmt das?
Die Medienwirkungsforschung weiß ja schon länger, dass diese Nachahmungstheorie zu simpel ist, egal ob es um Ballerspiele oder Pornos geht. Jugendliche bringen heute mehr Medienkompetenz mit. Sie wissen sehr genau, dass in den Medien Dinge gezeigt werden, die im echten Leben so nicht sind. Der Einfluss von Pornografie ist auch viel komplexer. Viele Eltern, die sich Sorgen machen, sind da weniger kompetent als ihre Kinder. Gerade Mütter von adoleszenten Jugendlichen haben oftmals keinerlei Erfahrungen mit Internetpornografie und wissen manchmal gar nicht, worüber sie sprechen. Das schürt natürlich Ängste. Vielleicht sollten sie erst einmal selber gucken.
Männer wissen aber doch Bescheid?
Erwachsene Männer konsumieren in der Tat Pornografie. Seltsamerweise wird in der gegenwärtigen Debatte oft so getan, als hätten Erwachsene damit nichts zu tun.
Stichwort Porno: „Jugendliche wissen genau, dass in den Medien Dinge gezeigt werden, die im echten Leben so nicht sind“
Wird durch das Übermaß an verfügbarer Pornografie mehr onaniert?
Könnte man vermuten, dem ist aber nicht so. Geändert hat sich, dass sich Jugendliche heute unbelasteter von Schuldgefühlen selbst befriedigen. Es gibt aber beim Thema Masturbation große Geschlechtsunterschiede: Fast alle Jungen masturbieren regelmäßig, auch häufig, aber nicht einmal die Hälfte der Mädchen. Und selbst die, die darin erfahren sind, machen es nicht so regelmäßig. Für viele Mädchen ist auch die Vorstellung abwegig, man könnte Pornos anschauen und das erregend finden.
In einer Konsumgesellschaft wird auch der Körper immer als etwas Begehrliches inszeniert. Lassen sich Jugendliche von den Idealbildern in der Werbung anstecken?
Das ist auf jeden Fall etwas, das sich zur Identifizierung eignet und falsche Leitbilder entstehen lässt. Auch Fernsehsendungen wie „Germany’s next Topmodel“ – da bekomme ich schon mehr Bauchschmerzen als bei Pornos. Viele wollen ja Model werden, aber niemand sagt: Oh, Pornodarsteller, das will ich auch.
Wodurch wird unser Sexualleben eigentlich geprägt? Gibt es so etwas wie Veranlagungen?
Es gibt biografisch früh verankerte Skripte, die so etwas wie die Blaupause des individuellen Sexuallebens darstellen. Was für Menschen sexuell begehrenswert ist, ist ja sehr unterschiedlich. Manche bevorzugen gleichgeschlechtliche Partner, andere haben ethnische Vorlieben oder einen Fetisch. Vieles von dem, was unsere Sexualität prägt, speist sich aus nichtsexuellen Bereichen. Wie ich später meinen Sex lebe, hängt davon ab, welche Erfahrungen ich als Kind gemacht habe: Wie wurde mit meinen Bedürfnissen umgegangen? Konnte ich meine Wünsche äußern, wurden die befriedigt, oder wurde ich immer enttäuscht? Welche Erfahrungen habe ich mit Bindungen und Beziehungen gemacht? Das wirkt sich alles auf die spätere Bindungsfähigkeit aus oder auf die Frage, ob ich mich auf etwas einlasse, etwas riskiere. Dann geht es um das Thema Körper: Wie ist als Kind mit dem Körper umgegangen worden? Manchen Kindern wird ja schon verboten, sich selbst anzufassen. Dann spielt die Erfahrung mit der eigenen Weiblichkeit oder Männlichkeit eine große Rolle. Das alles bildet eine Art Landkarte für das Begehren.
Ist das der Grund für das recht vernünftige Verhältnis zur Sexualität: dass viele Jugendliche den Umgang mit Themen wie Körperlichkeit und Emanzipation in der Familie unverklemmter und moderner erleben als die Nachkriegsgeneration?
Ich würde auf jeden Fall sagen, dass relativ viele Jugendliche ihr Sexualleben so gut organisieren können, weil sie relativ gute Erfahrungen gemacht haben mit ihrer Geschlechtlichkeit, ihrer Körperlichkeit und ihren Bedürfnissen. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir aus den Augen verlieren sollten, dass es auch Jugendliche gibt, deren Wünsche nach Geborgenheit, Respekt und Selbstachtung schon früh, nämlich in ihrer Herkunftsfamilie, enttäuscht wurden. Diese eher kleine Gruppe von Jugendlichen aus sozial und familiär prekären Verhältnissen braucht besondere Unterstützung.