Ralf Ptak, 51, lehrt nicht nur an der Uni Köln, er ist zudem Mitglied der Memorandum-Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik sowie des Wissenschaftlichen Beirats von Attac und Volkswirt des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) der Nordkirche.
fluter: Herr Ptak, Sie haben in der 11. Klasse freiwillig die Schule abgebrochen, um sich die Welt anzuschauen. Heute sind Sie promovierter und habilitierter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Wie haben Sie das geschafft?
Ptak: Ich habe nach meiner Rückkehr von den Reisen erst als Hilfsarbeiter gearbeitet und dann eine Ausbildung zum Maschinenschlosser absolviert. Während meiner Tätigkeit als Facharbeiter wurde ich in den Betriebsrat gewählt. Dort habe ich mich um die Ausbildungsplätze gekümmert. Wir haben sehr darauf geachtet, dass wir auch Jugendliche ausbilden, die ein wenig schwieriger sind. Das hat mit allen gut geklappt. Und ich habe gelernt: Jede und jeder braucht mehr oder weniger seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo.
Und dann hatten Sie keine Lust mehr, so früh aufzustehen, und sind noch mal an die Uni ...
Durch meine Tätigkeit als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat hatte ich Interesse an wirtschaftlichen Fragen bekommen. Das hat mir viel Spaß gemacht, und dann habe ich mit 30 gedacht: Warum studierst du nicht Wirtschaftswissenschaft? Dass ich nicht mehr so früh aufstehen musste, war eine schöne Nebenerscheinung.
Wieso durften Sie denn überhaupt studieren? Sie hatten doch gar kein Abi.
Wenn man genug Arbeitserfahrung und eine Berufsausbildung hat, geht das ja an einigen Unis. Ich habe dann sehr schnell mein Diplom gemacht und gleich im Anschluss meine Doktorarbeit, weil ich wusste: Das will ich.
So viel Zeit, sich auszuprobieren, haben heute die wenigsten.
Das stimmt. Es ist nicht zuletzt eine Geldfrage. Ich habe damals ein komfortables Stipendium bekommen und musste mir um Miete und Lebensunterhalt wenig Sorgen machen. Heute fehlt vielen diese finanzielle Unterstützung, die Freiheit erst ermöglicht. Heute sollen die Schule und das Studium schneller durchgezogen werden, um sich möglichst ohne Zeitverlust auf dem Arbeitsmarkt zu bewähren.
Warum diese Eile?
Weil man Kosten sparen und die Produktivität des Einzelnen erhöhen will. Die Politiker haben sich vor Jahren gedacht, dass die Jugendlichen zu lange in der Schule sind, dann zu lange studieren und erst mit 28 zur Volkswirtschaft beitragen. Durch eine frühere Einschulung, die Verkürzung des Abis und die Einführung der Bachelorstudiengänge versucht man, mehrere Jahre rauszuholen.
Aber heute gibt es viele Unternehmen, die sich über den schnellen Nachwuchs beklagen und dessen fehlende Substanz bemängeln. Ist die Bologna-Reform also ein Schuss in den Ofen?
Mittlerweile melden sich prominente Kritiker zu Wort. Für seine Kritik am System wäre der Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern noch vor wenigen Jahren als Modernisierungsverweigerer beschimpft worden – heute denken viele so. Ich selbst finde es schade, dass sich durch die Verkürzung und Formalisierung auch die Beziehung der Lehrenden zu den Studierenden verändert hat. Viele sitzen im Hörsaal und empfinden Diskussionen als störend, obwohl gerade das Abschweifen sehr erhellend sein kann. Aber im Vordergrund steht die Jagd nach den Credits. Es ist eine wenig kreative, sehr technokratische Lehr-Lern-Beziehung geworden.
War es denn nicht immer so, dass man in Schule und Uni wenig Muße hatte? Schon Nietzsche bezeichnete die Schulen als „Anstalten der Lebensnot“, an denen man für den Kampf um Arbeitsplätze vorbereitet wird. Und eben nicht als Orte, an denen man sich mit Zeit der Literatur oder Wissenschaft widmet.
Das hat Nietzsche schön gesagt. Klar hatte Bildung schon immer eine ökonomische Funktion. So wurde während der Industrialisierung das allgemeine Schulsystem eingeführt, weil man Arbeitskräfte benötigte, die schreiben und rechnen konnten. Das war ja auch eine Forderung der Arbeiterbewegung: Aufstieg durch Bildung.
Wenn Konsumgüter in China gefertigt werden, müssen wir Wissen produzieren
Kann denn heute noch jeder durch Bildung aufsteigen?
Leider nicht. Die Bildungschancen hängen in Deutschland so stark wie in kaum einem anderen wirtschaftlich vergleichbaren Land von der sozialen Herkunft ab. Kinder von Akademikern haben eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit, selbst zu studieren, als andere. Diese extrem niedrige soziale Mobilität ist in Europa einzigartig. Das kritisiert auch die OECD, also der Zusammenschluss der wirtschaftlich stärksten Länder. Sie empfiehlt Deutschland, das mehrgliedrige Schulsystem aus Haupt- und Realschule und Gymnasium aufzulockern und Schwächeren mehr Chancen zu geben. Gerade wenn man seine Zukunft als „Bildungsrepublik“ sieht, wie es Politiker seit Jahren predigen.
Was ist damit gemeint?
Es geht auf der einen Seite darum, dass Wissen als Wettbewerbsfaktor wichtiger wird, wenn sich im Kontext der Globalisierung die Wertschöpfungsketten ändern, also die Produktion von Gütern nicht mehr bei uns, sondern auf verlängerten Werkbänken in den Schwellenländern stattfindet. Nach der Industriegesellschaft kommt, so heißt es, die sogenannte Wissensgesellschaft. Das heißt: Wir müssen nicht mehr die Kühlschränke produzieren, sondern mehr immaterielle Werte wie Ingenieurleistungen oder Erfindungen.
Verdanken wir aber nicht unseren momentanen Wohlstand vor allem dem ungeheuren Export von Autos oder Maschinen?
Es ist bemerkenswert, dass die Rede von der Wissensgesellschaft durch die starke Bedeutung der alten Industrien konterkariert wird. Die haben uns ja die letzten Krisen überstehen lassen. Die Aneignung von Wissen hat ja auch direkt mit der klassischen Industrie zu tun. Vor der Produktion steht schließlich die Innovation. Auf jeden Fall werden die Anforderungen größer. Man muss mehr wissen, mehr leisten. Auch in der Schule erhöht sich der Druck, in kürzerer Zeit mehr Input in den Kopf zu tun.
Werden die, die das Tempo nicht mitgehen können, abgehängt?
Wenn der Weg in die Wissensgesellschaft Sinn machen soll, müsste man etwa über höhere Unternehmens- und Vermögenssteuern mehr investieren, um Chancengleichheit zu bekommen. Sonst werden beträchtliche Teile der Bevölkerung abgehängt. Vor allem, wenn Bildungspolitik plötzlich die bessere Sozialpolitik sein soll. Das heißt: Vor dem Hintergrund von Euro-Krise und Staatsverschuldung wird an der Sozialpolitik gespart; stattdessen soll die Bildung über die Zukunftschancen junger Menschen und deren späteren Wohlstand entscheiden.
Nach dem Motto: Wer genügend lernt, muss sich keine Sorgen machen zu verarmen.
Es geht um eine weitere Individualisierung der sozialen Frage. Die Botschaft lautet: Jeder muss sich um sich selbst kümmern. Am Anfang einer Erwerbsbiografie muss ich die Chance ergreifen, durch Bildung meine Startchance zu erhöhen. Da wir aber keine Chancengleichheit haben, läuft das auf eine weitere Spaltung der Gesellschaft hinaus.
Wird denn mehr in die Bildung investiert, wenn es in Zukunft derart auf sie ankommt?
Leider nein. Die Bildung ist chronisch unterfinanziert. Allein die öffentlichen Bildungsausgaben fielen von 4,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt im Jahre 1995 auf 3,7 Prozent in 2008, wobei sie trotz PISA-Schock weiter reduziert wurden. Um das Niveau von 1995 wiederzuerlangen, müssten wir 10,3 Milliarden Euro pro Jahr mehr ausgeben – gemessen an 1975 sogar über 35 Milliarden.
Die Hans-Böckler-Stiftung schätzt den Bedarf auf circa 40 Milliarden Euro pro Jahr.
Damit wären wir im Mittelfeld der OECD-Länder. Dass aber eher gespart wird, liegt auch am föderalen System, denn die Bildung ist eines der wenigen Politikfelder, bei dem die Landesregierungen Finanzhoheit haben. Daher wird dort gern gespart. Dem Bund ist es sogar verboten, die Länder zu unterstützen. Dabei müsste er zum Beispiel bei vielen Universitäten massiv Hilfestellung leisten. Wenn man sieht, dass die Bildungspolitik neben der Sozialpolitik der größte Topf ist, bei dem die Länder sparen können, ist der Druck auf diese Bereiche sehr groß. Dieses Problem wird sich durch die Schuldenbremse weiter verstärken.
Aber das ist doch schizophren. Man deklariert die Bildung zum großen Zukunftsprojekt und spart in der Gegenwart daran.
Die Lücke zwischen erhöhten Anforderungen an die Bildung bei gleichzeitigem Sparen sollen private Akteure auf neuen Bildungsmärkten schließen. Bisher war Bildung ein öffentliches Gut und nicht abhängig vom Portemonnaie des Einzelnen. Wenn die öffentliche Hand aber nicht mehr in der Lage ist, dieses Gut in ausreichender Qualität bereitzustellen, muss ich es mir woanders besorgen. Daher steigt zum Beispiel die Anzahl der Privatschulen dramatisch. Auch das Volumen der Schülernachhilfe hat enorm zugenommen. Das ist ein Riesenmarkt, ungefähr zweieinhalb Milliarden Euro pro Jahr. Auch in den öffentlichen Schulen selbst halten marktwirtschaftliche Mechanismen Einzug: Schulen sollen in Wettbewerb miteinander treten, über Sponsoring eigene Mittel einwerben und wie Unternehmen geführt und gesteuert werden. Nach dieser Logik ist der Rektor in Zukunft nicht mehr ein Lehrer unter vielen, sondern eine Art Manager mit betriebswirtschaftlicher Kompetenz, der ein eigenes Budget verwaltet und seine Kollegen „leistungsbezogen“ entlohnen soll. Bei den Unis haben wir ja bereits eine entsprechende Besoldung der Professoren. Und man bekommt kaum noch einen Job, wenn man nicht ausreichend selbst eingeworbene Finanzmittel mitbringt. Die Frage ist, ob wir Schulen und Unis tatsächlich wie ein Wirtschaftsunternehmen behandeln wollen oder ob wir aufgrund der gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen von Bildung ihren spezifischen öffentlichen Charakter weiterhin anerkennen. Aber darüber gibt es leider keine öffentliche Debatte.
Sich mit dem iPhone gegenübersitzen und anschweigen? Klingt nicht so doll
Müssten wir auch allgemein darüber reden, was der Zweck der Bildung ist?
Absolut. Momentan haben wir mit dieser ökonomischen Zurichtung der Bildung eine gefährliche Einengung. Unter Bildung verstehen wir zunehmend Ausbildung. Bildung hat aber auch den Zweck, uns zu mündigen Bürgern einer Demokratie zu machen. Im Humboldtschen Sinne zur Persönlichkeitsentfaltung beizutragen. Bildung muss auch dazu dienen, sich schöne Dinge anzueignen, ein Bild zu interpretieren, ein Musikstück zu spüren. Oder auch nur dazu, sich bei einem Bier gut zu unterhalten und sich auf kommunikative Weise ein Bild von der Welt zu machen. Und sich nicht mit den iPhones gegenüberzusitzen und sich anzuschweigen.
Gerade Deutschland steht doch auch in einer großen Bildungstradition mit seinen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Erfindern.
Eben. Andere Länder beneiden uns ja um diese humanistischen Wurzeln: um die Literatur, die Technik, auch die Sozialwissenschaften. Wir haben herausragende, international hoch geschätzte Intellektuelle und Wissenschaftler wie etwa Karl Marx hervorgebracht, aber heute kaum Lehrstühle, die diese Traditionen zeitgemäß fortsetzen und weiterentwickeln, wie es etwa in Japan oder Südkorea geschieht. Wir haben so eine Vielfalt und konzentrieren uns nur auf Schmalspurwelten. Wir nehmen uns die Möglichkeit, an einen großen Schatz anzuknüpfen, weil wir die Bildungspolitik nicht nach ihrer intellektuellen Tradition ausrichten, sondern durchökonomisieren.
Gibt es aber nicht jenseits der Bildungspolitik auch positive Signale der Bürger? So sind die Anmeldezahlen bei geisteswissenschaftlichen Fächern so hoch wie lange nicht, und das bloße ökonomische Wachstum gilt auch gerade bei Jüngeren nicht mehr als das allein Seligmachende.
Auf der Ebene individueller Verweigerungshaltungen gibt es Bewegung, und die hängt mit der Diskussion zusammen, was wichtig ist und wertvoll. Ob es ein großes Auto ist oder mehr Zeit für Freunde und Familie. Aber auch das ist eine soziale Polarisierung. Die Reflexion können nur die leisten, die das entsprechende Bildungsniveau haben. Um die anderen mache ich mir Sorgen.
Wie sähe denn Ihrer Meinung nach eine vernünftige Wissensgesellschaft aus?
Wir müssen die Bildungspolitik vernünftig ausstatten und besser koordinieren. Es kann nicht sein, dass jedes Bundesland seine eigene Politik macht. Die negativen Erfahrungen zeigen auch, dass der Bologna-Prozess in Europa dringend reformiert werden muss. Und dann müssen wir die Politikfelder, in die Bildung eingebettet ist, zusammendenken: Das betrifft auch die Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik. Und dann sollten wir damit aufhören, ständig mit den Chinesen oder wem auch immer konkurrieren zu wollen, anstatt uns auf Kooperationsfähigkeit und unser Freidenkertum zu besinnen.
Müssen wir überhaupt alle Akademiker werden? Es heißt doch immer, dass händeringend Facharbeiter gesucht werden?
Der Fachkräftemangel trifft auf bestimmte Berufsgruppen zu – etwa bei Ingenieuren oder in sozialen Berufen. Wir benötigen beispielsweise dringend Altenpfleger, aber das will kaum jemand werden, weil man schlecht verdient und die Ausbildung sogar noch selbst finanzieren muss. In Skandinavien sind soziale Berufe viel anerkannter. Da müssen wir zu einer Neubewertung kommen. Und dann jammern viele Unternehmen, dass ihnen der Nachwuchs fehlt, andererseits investieren sie aber immer weniger in Ausbildung und holen stattdessen schon ausgebildete Kräfte aus dem Ausland, wo sie dann fehlen. Wir haben mit der dualen Berufsausbildung mit Betrieb und Berufsschule ein weltweit vorbildliches Modell, das wir weiterentwickeln sollten, indem wir Wege suchen, wie wir auch die schwächeren Jugendlichen mitnehmen können, statt es der kurzfristigen Kostenlogik zu opfern.
Sehen Sie denn gar nichts Positives?
Doch. Es gibt an allen Ecken kleine Veränderungen, gewissermaßen Experimentierstuben des Neuen: Wenn etwa staatliche Regelschulen reformpädagogische Konzepte übernehmen, die die individuellen Fähigkeiten in den Vordergrund stellen, oder wenn sich selbst der Bundestag Gedanken darüber macht, ob ein bloßer Wachstumsfetisch noch für die Zukunft taugt. Viele Menschen nehmen Nachhaltigkeit ernst und verabschieden sich von der Geiz-ist-geil-Ideologie. Das Wissen, wie man es besser macht, ist prinzipiell da. Auch das ist ja eine Art Bildungserfolg.