Franz Boas war gewiss kein Faschist. Als Rassist hätte sich der US-Amerikaner wohl auch nicht bezeichnet, im Gegenteil, er galt als Kritiker des damals weit verbreiteten Rasse-Begriffs. Er wollte sogar helfen, endlich die Diskriminierung von Schwarzen in den USA zu beenden. Würde man Schwarze an einen Ort bringen, wo weniger Sonne scheint, so Boas in einem Brief, würden sie über die Generationen hinweg heller werden. Vorbei mit der Diskriminierung!
Für heutige Ohren klingt das absurd. Es klingt sogar gefährlich und rassistisch, nach Braunhemden, Rassengesetzen und Konzentrationslagern. Doch Boas, ein von schwarzen Intellektuellen hoch respektierter Wissenschaftler, meinte das ernst. Er beschäftigte sich, wie viele Wissenschaftler dieser Zeit, mit der Eugenik, der „Wissenschaft von der edlen Abstammung“, wie man es aus dem Griechischen übersetzen könnte. Boas warnte vor ihr – in Ausnahmefällen empfahl er sie aber auch.
Für einen Forscher gab es um das Jahr 1910 kaum ein moderneres, zukunftsträchtigeres Betätigungsfeld als die Eugenik. Die technologisch fortschrittlichsten Staaten der Welt, darunter die USA, Deutschland, Großbritannien und Schweden, überboten sich im Wettlauf um Ideen, wie man ihn erschaffen könnte: den neuen, besseren Menschen. Klug, fleißig, rechtschaffen und vor allem frei von Erbkrankheiten sollte er sein. Viele Anhänger dieser menschenverachtenden Ideologie argumentierten damit, nur helfen zu wollen.
Die Geschichte der Eugenik begann mit einer Fahrt auf die Galapagosinseln. Der Engländer Charles Darwin hatte in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts bei seinen Forschungsreisen und der anschließenden Untersuchung der dabei gesammelten Organismen herausgefunden, dass Arten sich in einem ständigen Kampf ums Überleben befinden. Sie trotzen Schneestürmen und Dürren, Fressfeinden und missliebigen Artgenossen durch Mutation und Selek tion. Die, die am besten angepasst sind – englisch: „the fittest“ –, überleben.
Darwins Evolutionstheorie elektrisierte die Intellektuellen seiner Zeit. Auch sein 13 Jahre jüngerer Cousin Francis Galton war von den Ideen seines Vetters begeistert. Galton fand, dass man die Evolutionslehre auch auf den Menschen von heute anwenden könnte – oder besser gesagt: anwenden müsste. Galton glaubte nämlich, dass die menschliche Gesellschaft die Evolution außer Kraft gesetzt habe. In der Tierwelt würden die Schwächsten aussterben, in der Menschenwelt nicht. Im Gegenteil: Die weniger Intelligenten, weniger Reichen bekämen mehr Kinder.
Nach Galton ging es also bergab mit der Menschheit. Wenn Galton damals durch die schmalen Gassen seiner Geburtsstadt Birmingham lief, sah er die aus seiner Sicht düstere Zukunft der Menschheit. In engen, stickigen Wohnungen hausten Arbeiter mit ihren Frauen und sieben oder acht blassen, hustenden Kindern. Draußen trocknete die Wäsche und wurde grau vom Qualm, den die Industrieschlote in die Luft bliesen. Für Galton waren diese Menschen eine Bedrohung der menschlichen Rasse: Sie, die Ungebildeten, Armen, Dreckigen, bekamen einfach zu viele Kinder.
Warum aber sollte nicht auch der Mensch die Verbesserung seiner eigenen Art in die Hand nehmen? Rennpferde werden auf Geschwindigkeit gezüchtet, Kühe auf Milchertrag, Bienen auf Sanftmütigkeit. Galton hielt es deshalb für „ziemlich praktisch, eine hochtalentierte Menschenrasse durch wohlüberlegte Ehen zu züchten“. Wie ein Gartenbauer wollte Galton schlechte Triebe abschneiden, um die gesunden besser gedeihen zu lassen. Eugenik war in seinen Augen Dünger für das Volk.
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was aus einer Unterscheidung zwischen höher- und minderwertigen Menschen werden würde. Galtons wissenschaftliche Schüler gingen sehr bald über seine Vorschläge hinaus. Als erstes Land der Welt führten die USA ein Programm zur Zwangssterilisierung von geistig Behinderten ein – oder solchen, die man damals dafür hielt. Der Bundesstaat Indiana begann 1907, andere folgten, auch einzelne Provinzen in Kanada, Japan und Südkorea. 15 Jahre später schrieb ein Jurist in den USA ein „Modellgesetz für eugenische Sterilisierung“. Der Grundgedanke der Eugenik, dass es nicht allen Menschen gleichermaßen zustehe, sich fortzupflanzen, verbreitete sich auch unter europäischen Politikern. In der Schweiz und Dänemark gab es bereits 1928 und 1929 Gesetze zur Zwangssterilisierung, Schweden, Finnland, Norwegen und weitere folgten in den 1930ern. In Schwedens Gesetzgebung blieben eugenische und rassenbiologische Prinzipien trotz Kritik über Jahrzehnte verankert. Erst im Jahr 1976, als ABBA „Dancing Queen“ sangen und Hippies Volvo fuhren, wurde die Zwangssterilisation abgeschafft. Mehr als 60.000 Menschen, häufig Insassen in Heilanstalten, aber auch Arbeitslose, „Gemischtrassige“ und weitere von der politischen Norm Abweichende, waren bis dahin zeugungsunfähig gemacht worden. Einige gaben ihre Zustimmung dazu mehr oder weniger – meist weniger – freiwillig, andere haben sie nie erteilt.
Einen Schritt weiter ging Alfred Hoche 1920 in seiner Schrift über „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Der Freiburger Arzt prägte den Begriff „Ballastexistenzen“. Gemeint waren damit bestimmte geistig und körperlich Kranke, etwa Manisch-Depressive. Mit ihrer Einwilligung – nötigenfalls auch ohne – wollte Hoche sie töten lassen. Hoche gilt als geistiger Wegbereiter der organisierten Massenvernichtung von Menschen mit Behinderungen in Nazideutschland.
Denn auch Adolf Hitler träumte von einem gesünderen „Volkskörper“. In „Mein Kampf“ beschrieb er Mitte der 1920er seine Vorstellung von einer „Rassenhygiene“. Im Juli 1933, ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozia listen, verabschiedete das Deutsche Reich ein „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Nach Schätzungen wurden unter der NSHerrschaft 400.000 Menschen zwangssterilisiert, mit und ohne Krankheiten. Sechs Jahre und mehrere Gesetze später begann dann der Mord an „lebensunwertem Leben“ unter dem Namen „Ak tion T4“, benannt nach der Zentraldienststelle T4 in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Der Ausdruck Euthanasie wurde als Euphemismus benutzt; er kommt aus dem Griechischen und bedeutet „guter Tod“. Innerhalb von zwei Jahren wurden mehr als 70.000 Menschen mit Injektionen totgespritzt oder mit Kohlenmonoxid in Gaskammern erstickt. Es traf Straftäter und Epileptiker, Demente und Schizophrene. Juristen, Ärzte und Pfleger machten mit. Bestraft wurden nach 1945 nur wenige.
Selbst Kinder wurden umgebracht. Wenn die behandelnden Ärzte keinen „Nutzen für die Volksgemeinschaft“ feststellen konnten, hatten sie kaum eine Chance. Es genügte, das Downsyndrom oder nur ein Bein zu haben. Mindestens 5.000 Minderjährige wurden zwischen 1939 und 1945 umgebracht. Der Direktor einer Kinderklinik schrieb in seinem Brief an die Eltern einer Ermordeten, das Kind „wäre im Leben sicher niemals ein brauchbarer Mensch geworden“. Die systematischen Massenmorde hatten 1945 ein Ende und sind bis heute beispiellos. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen wäre ohne die Auseinandersetzung mit der sogenannten Euthanasie undenkbar gewesen – und sie dauert an.
Seit einiger Zeit schwindet das offene Bekenntnis zur Eugenik aus den Gesetzbüchern und Debatten. Manche Rechtsextreme und wissenschaftliche Außenseiter berufen sich noch auf die gefährliche Pseudowissenschaft. 2010 landete ein Buch in den deutschen Buchhandlungen, das seine Hauptthese im Titel trägt: „Deutschland schafft sich ab“. Sein Autor, der ehemalige Politiker und Bundesbanker Thilo Sarrazin, zitiert darin unter anderem Francis Galton und seine Nachfolger. Vom Eugenik- Begriff distanzierte sich Sarrazin. Doch auch er argumentierte, dass die „Bildungsunfähigen“ und all jene, die der Bildung fernstehen, viel zu viele Kinder bekämen.