Sergey ist neu am Internat für Gehörlose, irgendwo in einem heruntergekommenen Außenbezirk in Kiew. Adrette Schuluniformen und eine ausgeprägte Etikette können nicht lange darüber hinwegtäuschen, dass in der baufälligen Anlage eine Gang das Sagen hat, die eher einem organisierten Verbrecherring gleicht. Während die Jungs auf Beutezüge gehen, prostituieren sich die Mädchen der Gruppe an einem nahe gelegenen Lkw-Rastplatz. Auch Sergey ordnet sich den autoritären Hierarchien unter, wird als Zuhälter zum vollwertigen Teil des „Stammes“. Doch als er sich in Anna, die Freundin des Anführers King, verliebt, gerät alles völlig außer Kontrolle.
Kein Wort wird gesprochen in „The Tribe“. Die gehörlosen Figuren, die von ebenfalls gehörlosen Laiendarstellern gespielt werden, verständigen sich in Gebärdensprache, und Regisseur Myroslav Slaboshpytskiy verzichtet auf eine Untertitelung. Außenstehende sind gezwungen, die eindringlichen Gesten genau zu beobachten. Mehr und mehr Muster lassen sich entschlüsseln, die menschliche Körpersprache zeigt sich in vielen Dingen universell verständlich.
Die Verbundenheit zwischen Anna und ihrer Freundin Svetka etwa erkennt man an kleinen Gesten: dem Berühren ihrer Gesichter, Neckereien, einem schnellen Kuss auf den Mund. Sergey wird der erste Kuss mit Anna zunächst verweigert, Sex und Intimität sind in Annas Leben ganz weit voneinander entfernt. Später liegen die beiden nackt und ineinander verschlungen auf dem Boden eines kahlen Raums, die Bewegungen nicht mechanisch, wie bei Annas Freiern, sondern selbstvergessen, im Rausch.
Stärker als der Wunsch nach Nähe dominiert in „The Tribe“ aber die Gewaltbereitschaft der Figuren, die durch die sie umgebende Stille noch physischer wirkt. Als beispielsweise Sergey von King und seinen Handlangern grundlos attackiert wird, formieren sich die Mitschüler instinktiv zu einem Zuschauerring. Wie in einer lautlosen Arena kommentieren sie das Geschehen. Wer wird gewinnen, wer verliert?
Die Szene nimmt drastisch Fahrt auf, die Jungs bewegen sich schneller, ihre Gesichter werden aggressiver, die Tritte und Schläge abgehackter und härter. Es ist keine Musik zu hören, keine Rufe oder Schreie, nur aufeinanderprallende Fäuste und Körper, Schuhe und Klamotten, die über den Boden ratschen. Als Sergey King plötzlich in den Nacken beißt, findet der Initiationsritus ein jähes Ende. Das Publikum löst sich auf, King wird weggebracht. Sergey ist ab sofort ein vollwertiges Mitglied des Stammes.
Geschichten ohne gesprochene Worte zu erzählen führt uns zurück zur Urform des Kinos: Am Anfang stand die Stummfilm-Ära, nur war die „Sprachlosigkeit“ damals technischen Limits geschuldet. Sie wurde ausgeglichen durch plakative Körpersprache und pantomimisches Schauspiel, garniert mit Schminke und Kostümen – auch weil das junge Medium Film sich noch stark am Theater orientierte und seine Ausdrucksformen erst noch entwickeln musste. Myroslav Slaboshpytskiy hat mit „The Tribe“ einen modernen Stummfilm geschaffen. Durch das Fehlen der Sprache werden die sichtbaren und hörbaren Ebenen neu erfahrbar.
Veränderte Wahrnehmung
Dass ein Film es schafft, das eigene Sehen zu verändern oder zu schärfen, ist eine starke Leistung. Mehr und mehr passt sich in „The Tribe“ die Aufmerksamkeit den Eigenheiten der Gebärdensprache an. Der schnelle Wechsel in einer solchen Unterhaltung erfordert ein sehr hohes Maß an Achtsamkeit für sein Gegenüber. Gesicht, Hände und Körperhaltung sind immer im Blickfeld. In einer Szene versucht Svetka Anna von einer stümperhaften Abtreibung abzuhalten. Anna will sich dem Gespräch entziehen, doch sie muss sich noch im gemeinsamen Zimmer fertig machen. Svetka wird handgreiflich, zerrt an ihr, hält ihren Kopf fest. Aber Anna verweigert ihren Blick, Svetkas drängende Gesten verpuffen ungesehen im Nichts.
Später hockt Anna auf dem Rand einer dreckigen Badewanne über einem Holzbrettchen. Sie lässt die grausame Prozedur über sich ergehen. Unmenschliche Schmerzen geißeln ihren schmalen Körper, doch nur erstickte Laute und ein herzzerreißendes Wimmern sind zu hören. Es ist nicht die einzige verstörende Szene stiller Brutalität, und so schockierend sie ist, wirkt sie doch beinahe konsequent in einem Film, der sich vollständig von den Worten, ihrer Mittelbarkeit und Doppelbödigkeit, abkehrt und stattdessen das Handeln und den Akt – den Gewaltakt, den rituellen Akt, den Sexualakt – ins Zentrum rückt.
Wie kein anderes Medium vermögen es Filme, das Körperliche und das Affektive zu transportieren, alles das, was mit Worten nicht eingefangen werden kann. „The Tribe“ ist ursprünglich, er ist roh, kraftvoll und kompromisslos. Das ist nicht immer leicht zu ertragen. Wer sich aber darauf einlassen kann, wird mit bleibenden Eindrücken belohnt.
Ruža Renić ist Volontärin im Filmbereich der bpb und arbeitet mit bei kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung