Kultur

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Völlig von der Rolle

Sophie Linnenbaums „The Ordinaries“ spielt in einer Filmwelt, die strikt in Haupt- und Nebenfiguren unterteilt – bis jemand nicht mehr mitspielen will

  • 4 Min.
The Ordinaries

„Stay in character!“ Dieser Appell tönt morgens auf dem Schulweg der 15-jährigen Paula aus Lautsprechern und ist auch für die anderen Figuren oberstes Prinzip. Denn „The Ordinaries“ ist ein Film, der die Filmwelt selbst thematisiert. Und die ist hier von einer strengen Gesellschaftsordnung geprägt: Oben stehen die charismatischen Hauptfiguren, gefolgt von den blassen Nebenfiguren, ausgegrenzt werden die geächteten Outtakes. 

Paula, der Teenager mit Ponyfrisur und Strickjacken-Look, ist in diesem System vorerst eine „Fast-Hauptfigur“ und lebt mit der Mutter im eintönigen Nebenfigurenviertel. Als Schülerin der Hauptfigurenschule steht sie kurz vor der Prüfung ihres Lebens. In der muss sie beweisen, dass sie das Zeug zur Hauptfigur hat. Allerdings läuft es für Paula gerade mittelprächtig. Im Panikschreien ist sie Klassenbeste, aber bei den emotionalen Monologen hapert es: Paula fühlt es einfach nicht. Ist sie in Wirklichkeit gar keine Hauptfigur?

„The Ordinaries“ ist eine Gesellschaftssatire – und ganz schön meta

Sophie Linnenbaums erster Spielfilm führt die Konstruktion von sozialer Ordnung, Klasse und Identität ad absurdum – und das auf eine Art und Weise, wie man es bisher noch nicht gesehen hat. Der Film ist, wie mittlerweile klar sein sollte, vor allem eins: ganz schön meta. Großer Witz liegt bereits darin, dass die Hauptfigur des Films an ihren Fähigkeiten zur Hauptfigur zweifelt. Zumindest ihre Herkunft scheint sicher. „Meine Mutter ist eine Nebenfigur, aber mein Vater war eine ganz besondere Hauptfigur“, verkündet Paula stolz. Die Betonung liegt auf dem „war“: Der Vater ist tot, heißt es, und zu ihrem Kummer hat sie ihn nie kennengelernt.

Um Paula aufzuheitern, hat ihre Freundin Hannah, die selbst aus einer Familie voller Hauptfiguren stammt, in der tagtäglich „glückliche Familienszenen“ getanzt und gesungen werden, eine Idee: Sie nimmt Paula mit ins nationale Archiv. Hier lagern Filmschnipsel – oder wie es im Film heißt: „Flashbacks“ – aller Hauptfiguren. Als Paula entdeckt, dass der Eintrag zu ihrem Vater fehlt, ahnt sie, dass ihre Version der Geschichte über ihn nicht stimmen kann. Ab diesem Moment fängt auch noch ihr „Herzleser“ an zu spinnen, ein kleines metallenes Gerät, das Hauptfiguren an der Brust tragen, damit ihre großen Emotionen von mitreißenden Melodien untermalt werden. Bei Paula gibt das Ding plötzlich nur noch dissonante Töne von sich.

THE ORDINARIES (Offizieller Trailer) | Ab dem 30.03.23 im Kino

Redaktionell empfohlener externer Inhalt von www.youtube.com.
Ich bin damit einverstanden, dass externe Inhalte von www.youtube.com nachgeladen werden. Damit werden personenbezogenen Daten (mindestens die IP-Adresse) an den Drittanbieter übermittelt. Weiteres dazu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Diese Einstellung wird mit einem Cookie gespeichert.

 Externen Inhalt einbinden

Paula macht sich auf die Suche nach der wahren Geschichte über ihren Vater – und schließlich nach sich selbst. Diese Suche führt sie durch die sonderbare und manchmal dystopisch erscheinende Filmwelt. Es wird immer klarer: Der Klassismus und die Ausgrenzungspraktiken, die hier herrschen, sind zwar überspitzt dargestellt. Trotzdem scheint durch, dass sie den gesellschaftlichen Ungleichverhältnissen abseits der Leinwand nicht unähnlich sind, auch wenn die Hierarchien dort subtiler wirken mögen als in „The Ordinaries“.

Paula jedenfalls stellt die Verhältnisse und ihre Rolle darin zunächst nicht infrage. Auch sie bringt den ausgegrenzten Outtakes anfänglich Misstrauen entgegen – und erinnert diese sogar an die soziale Ordnung: „Sie sitzen falsch!“, weist Paula ein Outtake auf einer Busfahrt an, nachdem die Figur zwischen Hauptfiguren und Nebenfiguren Platz genommen hat. Die Szene erinnert sicher nicht zufällig an eine historische Ungleichbehandlung: die Diskriminierung schwarzer Menschen im Zuge der „Rassentrennung“ in den USA. Erst als Paula zu einer Erkenntnis über sich selbst gelangt, beginnen ihre fixen Vorstellungen zu bröckeln.

In der finalen Prüfung offenbart Paula mutig ihren größten Makel, der sie als Hauptfigur eigentlich disqualifiziert. Im Publikum bricht Tumult aus. Aber nach und nach beginnen auch die anderen Figuren, Geheimnisse preiszugeben, die sie in der Logik dieser Welt sozial herabstufen würden: Paulas Lehrer ist bloß animiert, Superman hat Angst vor dem Fliegen, eine weitere Figur offenbart, sie habe „keine Backstory“. Es entsteht das euphorische Gefühl, diese reglementierte Gesellschaft verändern zu können.

Wie findet man seinen Platz in der Welt? Davon erzählt „The Ordinaries“ mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, klugen Dialogen und einer paradoxen Antwort: Indem man öfter aus der Rolle fällt, die für einen bestimmt ist. Denn nur so findet man die eigene Storyline.

„The Ordinaries“ läuft ab sofort in den Kinos.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.