Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat in den Augen vieler einen Wandel in der deutschen Politik ausgelöst: Die Verteidigungsausgaben wurden massiv erhöht und Deutschland liefert schwere Waffen an die Ukraine – eine Entscheidung, die von weiten Teilen der Politik und einer knappen Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde. Auf diese Entwicklung hat der Philosophieprofessor Olaf Müller, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt, reagiert: Er hat eine Verteidigung des Pazifismus geschrieben. Müller sagt: Der Westen hätte die Ukraine „militärisch im Stich“ lassen müssen – und setzt dem Krieg einen „pragmatischen Pazifismus“ entgegen.
fluter.de: Sie arbeiten seit knapp 30 Jahren aus philosophischer Perspektive zum Thema Krieg und Frieden. Hat es Sie überrascht, wie schnell Teile der deutschen Gesellschaft ihren Pazifismus nach dem russischen Angriff auf die Ukraine über Bord geworfen haben?
Olaf Müller: Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft zuvor pazifistisch gewesen ist. Es herrschte lediglich ein weitgehender Konsens darüber, dass wir uns keine großen Sorgen um Krieg und Frieden in Europa zu machen brauchten. Aber das ist noch kein Pazifismus: Pazifismus ist keine Schönwetterveranstaltung, sondern eine Haltung, die wichtig wird, wenn es hart auf hart kommt.
In Ihrem Buch fordern Sie einen „pragmatischen Pazifismus“. Was meinen Sie damit?
Wer pragmatisch und nicht starr mit Regeln umgeht, ist im Fall der Fälle bereit, die Regeln an eine bestimmte Situation anzupassen. Beim Blick auf Krieg und Frieden heißt das zum Beispiel, keine scharfe Grenze zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse, Fakten und Wertungen, Krieg und Nichtkrieg zu ziehen. Es läuft darauf hinaus, stattdessen jedes Mal Grautöne zuzulassen. Ein pragmatischer Pazifist ist sich darüber im Klaren, dass bereits in die Konfliktbeschreibungen Wertungen einfließen – er beschreibt Konflikte mit besonderem Augenmerk für friedliche Auswege und ohne Dämonisierung der Gegenseite. Er sagt vorsichtigerweise nur: Je kriegerischer eine Handlung ist, desto schlimmer ist sie aller Voraussicht nach.
Welche anderen Pazifismuskonzepte gibt es?
Es gibt den gesinnungsethischen Pazifismus, der sagt: Komme, was wolle, gegen kriegerische Handlungen müssen wir immer moralischen Einspruch erheben. Also: nein zu Krieg, nein zu Waffenlieferungen, zur Waffenproduktion und zur Forschung im militärischen Bereich. Das ist die Form von Pazifismus, die in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommen wird. Dann gibt es noch den verantwortungsethischen Pazifismus. Der beruht darauf, dass man die Folgen der Entscheidung über Krieg und Frieden einbezieht: So gut wie jeder Krieg ist demzufolge nicht etwa bloß deshalb falsch, weil er ein Krieg ist, sondern weil die Folgen des fraglichen Kriegs viel schlimmer sind als die Folgen des Verzichts auf Krieg. Diese Haltung setzt eine unerhörte Faktenkenntnis voraus, über die wir normalerweise nicht verfügen. Zwischen diesen beiden Positionen sucht der pragmatische Pazifist einen Mittelweg.
Können Sie konkrete Beispiele geben, wo diese Pazifismusformen eine Rolle gespielt haben?
Gesinnungsethische Pazifisten lehnten etwa den Krieg der Alliierten gegen Nazideutschland ab, obwohl damit das Unrecht der Nazibarbarei beendet werden konnte. Diese Position vertrat in den 1930er-Jahren zum Beispiel der britische Autor Aldous Huxley. Der Philosoph Bertrand Russell dagegen fand, dass man die Folgen von Kriegen im Blick haben muss. Mit Blick auf die Nazibarbarei kam Russell letztlich zu dem Ergebnis, dass der Krieg gegen Nazideutschland richtig war, auch wenn ihm diese Entscheidung nicht leichtgefallen ist.
Ein großer Kritikpunkt an pazifistischen Konzepten lautet: Die „Appeasement-Politik“ insbesondere Großbritanniens in den 1930er-Jahren – also der Versuch, mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu verhandeln – habe den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust überhaupt erst ermöglicht.
Das Appeasement des damaligen britischen Premierministers Chamberlain war zwar nicht pazifistisch motiviert, aber seine Politik war unabhängig von ihrer Motivation allemal ein Fehler. In einem Satz lautet meine pragmatistische Haltung dazu: Fast immer sind kriegerische Handlungen wegen ihrer Folgen moralisch falsch, aber es gibt diese eine Ausnahme. Warum die Ausnahme? Weil es damals darum ging, gegen das schlechthin Böse der Nazibarbarei zu kämpfen, gegen eine einzigartige Form von Verbrechen wider die Menschlichkeit. An diesem Punkt wäre es verrückt gewesen, die Grenzen des Pazifismus zu leugnen.
In so einem Fall ist Krieg also aus Ihrer Sicht legitim?
Ja. Es ist rein theoretisch denkbar, dass diese selbe Form von Barbarei wieder auf uns zukommt. Aber wann ist das denn wirklich der Fall? In weiten Teilen des Westens herrscht Einigkeit, dass die widerwärtige Einzigartigkeit der Nazibarbarei nicht so schnell verglichen werden kann mit anderen schlimmen Kriegsverbrechen, die um Dimensionen davon entfernt sind. Trotzdem müssen wir darauf vorbereitet sein, dass sich eine Barbarei dieses Ausmaßes wiederholt. Wenn es so weit ist, dann müssen wir den Pazifismus auch einmal mehr beiseitelegen.
„Der Weg, den ich vorschlage, ist schlecht. Der Weg, den die Gegenseite geht, ist meiner Meinung nach noch schlechter“
Sie sprechen sich in Ihrem Buch dafür aus, die Ukraine „militärisch im Stich zu lassen“. Wäre die Politik dieser Forderung nachgekommen, gäbe es heute wahrscheinlich keine Ukraine mehr. Wie angemessen ist diese Position in einer Situation, in der Menschen um ihr Überleben kämpfen?
Ich schreibe ganz ausdrücklich, dass mir diese Aussagen nicht leichtfallen. Zum Glück haben wir alle zunächst den völlig richtigen Impuls, denen zu Hilfe zu eilen, die den abartigen Angriffen aggressiver Soldaten ausgesetzt sind. Diesen Impuls habe ich auch, und der macht es mir nicht leicht, trotzdem gegen Waffenlieferungen zu plädieren. Es gibt in Ihrer Frage aber eine gewisse Unschärfe: Eine Sache ist, zu behaupten, dass es die Ukraine als Staat ohne unsere Waffenlieferungen nicht mehr gäbe, eine andere Sache, dass es die Ukrainer als Menschen nicht mehr gäbe. Wenn wir die Ukraine in diesem Krieg im Stich gelassen hätten, dann wären mit einiger Sicherheit die staatlichen Institutionen der Ukraine untergegangen, und das Land wäre unter russisches Diktat gekommen. Ein Territorium zu verlieren ist nicht unbedingt dasselbe, wie Menschen zu verlieren.
Das hieße aber, das ganze Leid, das mit einer Fremdherrschaft einhergegangen wäre, in Kauf zu nehmen.
Ich will das nicht verharmlosen. Unter Fremdherrschaft und Diktatur zu leben ist schlimm. Bei einem verantwortungsethischen Blickwinkel wäre dieses Übel abzuwiegen gegen das Leid, das der Krieg insgesamt mit sich bringt. Die Opferzahlen sind nicht gut dokumentiert, aber es gibt Schätzungen, denen zufolge auf russischer Seite ungefähr 100.000 Soldaten gestorben oder kampfunfähig verletzt sind. Und dieselbe Zahl wird für die ukrainische Armee angesetzt, plus 40.000 getötete Zivilisten. Das Leid, das sich hinter diesen Zahlen verbirgt, ist kaum vorstellbar. Wer die Unverletzlichkeit der menschlichen Person als höchsten Wert ansieht, wird sich gegen einen Verteidigungskrieg mit dermaßen hohem Blutzoll aussprechen. Wir können einigermaßen sicher davon ausgehen, dass die Russen beim ukrainischen Verzicht auf militärische Gegenwehr keine 40.000 Zivilisten getötet hätten. Natürlich kann man meinen, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine habe einen so hohen Wert, dass ihre Erhaltung eine große Anzahl von Menschenopfern rechtfertigt. Das respektiere ich, auch wenn ich den Wert von Menschenleben höher einschätze.
Ihrer Meinung nach rechtfertigt die ukrainische Eigenstaatlichkeit den Verteidigungskrieg nicht?
Jede verlorene Eigenstaatlichkeit kann im Lauf der Geschichte auch wieder zurückgewonnen werden; die Toten sind dagegen für immer tot. Zugegeben: Wann eine Fremdherrschaft endet, ist kaum vorherzusehen. Aber es kommt immer wieder vor. Nach einigen Jahrzehnten übler Fremdherrschaft konnten sich die unterdrückten Länder des Ostblocks friedlich aus dem Würgegriff der Sowjetunion befreien.
Sie schreiben, dass Sie sich mit Ihrer Forderung schuldig machen. Schuldig woran?
Schuldig gegenüber Menschen. Ich habe vor längerer Zeit in Krakau gelebt und dort eine Reihe von Ukrainern kennengelernt, von denen ich sehr beeindruckt war. Wir haben uns gut verstanden. Wenn ich mir auch nur vorstelle, ihnen mein Plädoyer gegen militärischen Widerstand ins Gesicht zu sagen, dann fühle ich mich schuldig, und das ist bitter. Ich sehe aber keinen anderen, besseren Weg. Der Weg, den ich vorschlage, ist schlecht. Und der Weg, den die Gegenseite geht, ist meiner Meinung nach noch schlechter. Wir kommen nicht schuldlos aus dieser Sache heraus. Hier haben Sie eine Besonderheit des Pazifismus, für den ich stehe: Er bietet keine Haltung, mit deren Hilfe man garantiert auf der sauberen, sicheren Seite steht.
Wie gehen Sie mit dieser Schuld um?
Ich versuche, meine Position nicht mit derselben Selbstgewissheit zu vertreten, wie man es sonst von Pazifisten gewohnt ist. Ich artikuliere den Zweifel und zeige in aller Ehrlichkeit, dass ich mit meinem Ergebnis hadere. Mehr als das ehrliche Eingeständnis einer Schuld bleibt mir nicht. Und ich versuche, wach dafür zu bleiben, ob die von mir vertretene Position nicht doch in die Verrücktheit umkippen könnte, wie ich sie den Pazifisten der 1930er-Jahre in Großbritannien attestieren würde. Ich bleibe darauf vorbereitet, dass ich falschliegen könnte.
Olaf Müller, geboren 1966, ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er beschäftigt sich vor allem mit Wissenschaftsphilosophie.