Als ich meiner Familie und meinen Freunden davon erzählte, dass ich das Vikariat, also die Ausbildung zur Pfarrerin, machen möchte, hat das für sie alle irgendwie Sinn ergeben – schließlich habe ich mich schon immer für Menschen und Religion interessiert. Außerdem komme ich aus einem christlich geprägten Elternhaus.
Überrascht waren viele trotzdem. Von einigen bekam ich zu hören: „Oh, dann musst du jetzt aber brav werden“ – auch wenn das eher mit einem Augenzwinkern gemeint war. Denn ich lebe seit längerem mit einem Mann zusammen, der um einiges älter ist als ich. Und: Wir führen eine offene Beziehung. Ich habe mir schon früh eine Beziehung mit mehreren Männern vorgestellt. Dass ich dieses Lebensmodell ausleben kann, ist ein wichtiger Teil meiner Identität.
„Die Ansprüche der Gesellschaft daran, wie eine Pfarrerin zu sein und zu leben hat, haben mir unglaublich Angst gemacht“
Nach dem Theologiestudium wollte ich eigentlich zunächst an der Uni bleiben – ich hatte mehrere Promotionsangebote und den Plan, später mal in der freien Wirtschaft zu arbeiten. Als ich dann aber zu Hause so viel am Schreibtisch rumsaß, habe ich gemerkt: Das macht mir überhaupt keinen Spaß. Mir hat der Kontakt zu Menschen gefehlt. Vor meinem Studium hatte ich bereits ehrenamtlich in meiner Kirchengemeinde mitgearbeitet und gemerkt: Man kann dort die Wirkung, die diese Hilfe auf andere hat, sofort sehen.
Der Pfarrberuf wird aber noch immer sehr mit Frömmigkeit und einem konventionellen Familienbild in Zusammenhang gebracht. Deshalb habe ich lange geglaubt, dieser Erwartungshaltung nicht gerecht werden zu können. Die Ansprüche der Gesellschaft daran, wie eine Pfarrerin zu sein und zu leben hat, haben mir unglaublich Angst gemacht. Man ist nicht nur eine Privatperson, die einen Beruf hat, sondern wird oft ausschließlich als Vertreter:in der Kirche wahrgenommen. So etwas wie Freizeit gibt es als Pfarrperson nicht: Egal ob man einkaufen oder spazieren geht, man steht in der Öffentlichkeit und repräsentiert für die Gemeindemitglieder eine Autorität.
„Die Vorstellung, dass eine meiner Affären in die Kirche kommt – unvorstellbar“
Ich bin mir unsicher, wie die Details meines Privatlebens in der Gemeinde ankommen würden. Die Vorstellung, dass zum Beispiel eine meiner Affären in die Kirche kommt – unvorstellbar. Einerseits will ich nicht damit konfrontiert werden, wie Menschen eventuell reagieren, und habe Angst, dass das Vertrauen bricht. Andererseits habe ich ein starkes Bedürfnis danach, authentisch zu sein: zu zeigen auf welch unterschiedliche Weise man Liebe leben kann.
Jemanden zu einem „richtigen“ Lebensmodell zu bekehren, würde ich aber nie wollen – weil es das meines Erachtens ohnehin nicht gibt – weder in der Bibel noch in der Kirche. Als Christin glaube ich in erster Linie an Gott, nicht an die Bibel. Auch wenn mein Lebensmodell in der Bibel nicht vorkommt – sie lehrt uns, verantwortungsvoll zu handeln. Und ebenso, dass es als Mensch okay ist, Fehler zu begehen. Für meine Beziehung heißt das, ehrlich miteinander umzugehen und einander keinen Schaden zuzufügen.
Gerade in der Kirche sind Ehrlichkeit und Authentizität unglaublich wichtig – nicht zuletzt angesichts der jüngsten Debatte um sexuellen Missbrauch, die das Vertrauen in kirchliche Institutionen stark beschädigt hat. Wenn ich heute neue Leute treffe und mich als angehende Pfarrperson „oute“, werde ich häufig damit konfrontiert, dass mir die Personen erst mal sagen, was sie alles an der Kirche zu kritisieren haben. Ich habe oft das Gefühl, in eine Schublade gesteckt zu werden. Dabei war Kirche für mich nur ein Interessengebiet von vielen. Ich habe mir auch immer gerne Schmink-Tutorials auf YouTube oder Trash-TV angeschaut. Deswegen habe ich früher oft nicht sofort erzählt, dass ich Theologie studiere. Inzwischen gehe ich aber offen damit um und sage auch, dass ich Pfarrerin werde.
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Sollte doch bekannt werden, dass ich in einer offenen Beziehung lebe, würde ich nicht lügen, sondern versuchen, bei der Wahrheit zu bleiben. Aber ohne ins Details zu gehen. Ich glaube, dass sich Menschen ohnehin immer in so einer Spannung zwischen Lüge und Wahrheit bewegen – ob bewusst oder unbewusst. Menschen erzählen anderen Menschen nie alles über sich – manches behält man einfach gerne für sich. Das gilt für geistliche Personen genauso wie für alle anderen. Etwas zu verschweigen, ein Detail wegzulassen ist für mich nicht gleichzusetzen mit Lügen. Ich kann ja schon über offene Beziehungen als Modell sprechen, ohne offenzulegen, dass ich das selbst lebe. Sowieso sollte es im Pfarrberuf nie in erster Linie um mich und meine Bedürfnisse gehen – denn das hindert mich daran, eine gute Seelsorgerin zu sein.
Bisher wurde in meiner Gemeinde nicht von mir gefordert, alle Aspekte meines Privatlebens offenzulegen. Ich empfinde die Gemeinschaft untereinander als sehr freundlich und wohlgesonnen. Die Leute nehmen mich so an, wie ich bin. Und: Ich habe sogar eine Kollegin kennengelernt, die ein ähnliches Lebensmodell lebt. Der Austausch mit ihr hat mich sehr in meiner Berufswahl bestärkt. Zugleich merke ich Tag für Tag, wie sehr mich dieser Beruf erfüllt, trotz der Zweifel, die ich manchmal noch habe. Für den Moment fühlt es sich also richtig an, hier zu sein – und das scheint nicht nur mir so zu gehen, sondern auch der Gemeinde.
*Marie ist 28 und heißt eigentlich anders. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.
Illustration: Gregory Gilbert-Lodge