Es war ein Schlüsselmoment im Leben von Sam Klemke. Der Moment, in dem er sich bestätigt gefühlt hat, dass es richtig war zu tun, was er damals schon seit mehr als 30 Jahren getan hatte: sich selbst zu filmen. Jedes Jahr in seinem Leben möglichst jeden wichtigen Moment von der Zahnspange als Teenager über die erste Liebe bis zum Auszug aus dem Elternhaus festzuhalten. Es wundert also nicht, dass er auch die Kamera laufen ließ, als er mit Mitte 50 an einem zugemüllten Schreibtisch vor seinem Laptop sitzt und YouTube entdeckt. Klemke ist begeistert. Er sieht die Videoblogs von Techniknerds, Schminkdivas und Amateurmusikern. Und er sieht die Videos von Leuten, die sich fünf Jahre lang jeden Tag fotografieren und daraus Zeitraffer-Clips basteln. Er weiß: Da hat er mehr zu bieten. Sein erstes YouTube-Video heißt: „35 years backwards thru time with Sam Klemke“.
Wer sich immer schon gefragt hat, was es mit der in sozialen Netzwerken verbreiteten Sucht auf sich hat, von sich selbst Bilder zu machen, findet im Dokumentarfilm „Sam Klemke’s Time Machine“ aufschlussreiche Antworten. Der Film besteht zu großen Teilen aus Klemkes filmischen Selbstporträts, allerdings hat er die Clips nicht selbst kompiliert, sondern sein gesamtes Archiv dem Australier Matthew Bate zur Verfügung gestellt. Der Filmemacher war einer der 600.000 Menschen, die damals Klemkes YouTube-Video gesehen hatten – heute sind es weit über eine Million.
Sich vergewissern, Mensch zu sein
Das Erstaunliche an den Videos – zunächst mit Super-8-, später mit Video- und schließlich mit Digitalkamera gefilmt – ist, dass Klemke schon Ende der 1970er-Jahre eine Ansprache und ein wiederkehrendes Format wählt, das sehr an heutige Videoblogs erinnert. So zieht er etwa am Ende jedes Jahres Bilanz. Wiederkehrende Themen sind sein Kampf gegen das Übergewicht und sein prekäres Leben als Karikaturist. Es geht aber auch um politische Ereignisse der jeweiligen Jahre. Dabei wendet sich Klemke an ein imaginäres Publikum, obwohl er die Aufnahmen eigentlich nur für sich selbst macht. Er grüßt in die Kamera, bezieht sich auf frühere Folgen und reflektiert sein Projekt, als hätten die Follower seiner Videos ihn angesprochen: „Die Leute fragen mich, warum ich das mache. Zeit fasziniert mich einfach. Ich will all die Veränderungen in meinem Leben einfangen, und zwar in den Momenten, in denen ich sie erlebe.“
Der Dokumentarfilmer Matthew Bate reiht diese Aufnahmen nicht bloß aneinander, sondern eröffnet durch eine zweite Ebene einen filmischen Reflexionsraum. Das wirkt zunächst etwas willkürlich: Klemke beginnt sein Videoprojekt 1977, im selben Jahr, in dem die unbemannte Raumsonde „Voyager 1“ auf ihre bis heute andauernde Mission geschickt wird. Mit an Bord: die „Voyager Golden Record“, eine Greatest-Hits-Platte mit Musik, Geräuschen, Bildern und Grußbotschaften der Menschen für außerirdische Lebensformen, die ja irgendwo im interstellaren Raum auf die „Voyager 1“ stoßen könnten. Zwischen Klemkes Clips aus dem Keller seines Elternhauses schneidet Bate also immer wieder essayistische Zwischenspiele, in denen das utopische Bild der Menschheit auf der „Golden Record“, bestehend aus Kulturkanon und Friedensbotschaft, seziert wird.
Bei beiden Selbstporträts, beim großen Idealbild der Menschheit wie bei Klemkes Langzeitdokumentation des persönlichen Scheiterns, geht es letztlich – so schlägt der Film vor – kaum um die bloß hypothetischen Adressaten, sondern mehr um eine Art Selbstvergewisserung. Um eine Erinnerung daran, was es heißt, Mensch zu sein. Aber vielleicht erwarten wir von unseren Selfies im digitalen Zeitalter dann doch, dass auch die anderen, die Außerirdischen im Web-Universum, uns das Gefühl geben, dass wir Menschen sind.
Der Film von Matthew Bate ist online bei Vimeo verfügbar.
Jan-Philipp Kohlmann ist Volontär im Filmbereich der bpb und arbeitet mit bei kinofenster.de, dem Online-Portal für Filmbildung