Herr Speer, seit 2007 lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Werden Stadtplaner immer wichtiger und mächtiger? 

Na ja. Jede Stadt ist ein lebendiger Organismus, der sich ständig verändert. Stadtplanung versucht, Einfluss zu nehmen in allen Bereichen, die mit räumlicher Entwicklung zu tun haben. Aber von allen Faktoren, die eine Stadt bestimmen, hat der Stadtplaner vielleicht einen Anteil von fünf Prozent an den Entscheidungskriterien. Mehr nicht.

Wer entscheidet die übrigen 95 Prozent?

Am Ende entscheidet die Politik.

Was sind die dringendsten Probleme, denen sich Stadtplaner und Politiker stellen müssen?

Die Menschen müssen intelligenter mit ihren Städten umgehen.

Was bedeutet das?

Auch wenn die Begriffe schon so abgegriffen sind, dass ich mich kaum traue, sie zu benutzen: Nachhaltigkeit und Ökologie.

Sie können ja erklären, was Sie darunter verstehen.

Ressourcen sparen, genau überlegen, welche Flächen überhaupt und dann wie bebaut werden, die Stadt der kurzen Wege verwirklichen – dass also Wohnung, Arbeitsstätten, Dienstleistungen, Universitäten, Freizeiteinrichtungen, Erholungsmöglichkeiten so nahe beieinander liegen, dass man das Auto nicht braucht.

Wie schafft man das?

Der öffentliche Nahverkehr muss so gestaltet werden, dass die Menschen mit Elektrobussen, Straßenbahnen oder U-Bahn fahren statt mit dem Auto. Ein wichtiger Aspekt ist das Stadtklima. Das hängt ganz wesentlich zusammen mit der Anzahl und der Vernetzung von Grünflächen. Parks, Straßen, Sportflächen. Und: Die Menschen in der Stadt müssen ja auch essen. Also muss man landwirtschaftliche Flächen bestimmen und erhalten. In all diesen Punkten könnten wir sowohl bei der Entwicklung der Megastädte in der Dritten Welt als auch beim Umbau der Städte in Europa noch viel mehr tun.

Und woran scheitert es bisher?

Wir betrachten die Probleme zu oft isoliert. Wir denken über sparsame Autos nach, müssten aber über die gesamte Verkehrssituation und die Vernetzung zwischen privatem und öffentlichem Verkehr nachdenken. So ist es auch beim Klimaschutz. Es ist prima, wenn die Geräte weniger Strom verbrauchen. Aber solange in Deutschland noch mehr als ein Drittel aller Wohngebäude nicht anständig isoliert ist, ist es vernachlässigbar, dass Energie gespart wird, indem man den Fernseher nachts nicht auf Stand-by lässt. Weder in Deutschland noch in der Dritten Welt haben wir eine wirklich integrierte Infrastruktur geschaffen, in der Wasser, Abwasser, Müll und Energieversorgung zusammen betrachtet werden. Immerhin haben wir in Abu Dhabi den Auftrag, eine Ökocity zu planen, in der sich Energieverbrauch und Energiegewinnung über Solar und Ähnliches ausgleichen. Das kann Vorbild für weitere Projekte sein.

Kann integrierte Stadtplanung auch in Megacitys wie Lagos oder Mexico City funktionieren?

Lagos ist nun eines der schlimmsten Beispiele. Die Infrastruktur, die da vor dreißig oder vierzig Jahren mit viel Aufwand modern gebaut wurde, ist nicht gewartet und repariert worden und bricht allmählich zusammen. Aber auch in Lagos gibt es andere Viertel, ge-pflegte Wohnviertel. Die große Schwierigkeit ist: Das sind eigentlich keine stadtplanerischen Aufgaben, das sind soziale, wirtschaftliche, politische Probleme. Das erleben wir auch im Nigerdelta. Dort planen wir gerade die Provinzhauptstadt Yenagoa, in der letztlich eine halbe Million Menschen leben sollen. Dort gibt es so viele verschiedene Stämme, Sprachen und Religionen, Rivalitäten – da ist die Stadtplanung gar nicht das Dringendste.

Dann weg von Lagos: Sind Städte ab einer gewissen Größe städteplanerisch einfach nicht mehr zu bewältigen?

Das kann man so nicht sagen. Mexico City, Shanghai oder Mumbai sind ja eigentlich keine Städte mehr. Das sind Zusammenballungen von vielen Städten, die auch unterschiedliche Eigenleben innerhalb dieses Gesamtgebildes haben. Stadtplaner können Möglichkeiten aufzeigen, Modelle entwickeln und in begrenzten Gebieten zeigen, dass sie funktionieren. Man kann Einfluss nehmen, indem man all das anspricht, was ich vorhin unter Nachhaltigkeit und Ökologie genannt habe.

Unterscheidet sich Ihre Arbeit in Afrika oder Asien von der in Europa?

Das sind ganz unterschiedliche Aufgaben. In Europa sind die Städte gebaut, die Bevölkerung nimmt nicht mehr zu, sondern eher sogar ab. Wir haben aufgrund einer jahrhundertealten Geschichte gewachsene Stadtstrukturen mit eigenständigem Charakter. Hier geht es darum, die Lebensqualität in der Stadt zu verbessern, den Verkehr zu reduzieren, die Innenstädte wieder zu bewohnen.

Können Sie da etwas genauer werden?

Nur ein Aspekt: Wir werden alle älter und bleiben länger mobil. Also sollte man Altenheime eigentlich mitten in die Stadt bauen und nicht mehr an den Stadtrand. Die Menschen wollen den Kontakt zu anderen, zu Fuß in die Stadt gehen können, besucht werden können. Häuser und Grundstücke an den Rändern von Ballungsgebieten werden an Wert verlieren, weil sie mit der Stadt nichts mehr zu tun haben.

Wenn Sie mit der Planung einer Stadt wie Yenagoa im Nigerdelta beginnen: Womit fangen Sie an?

Wir schauen uns erst mal sehr genau die Landschaft an, beschäftigen uns mit dem Klima, den wirtschaftlichen Voraussetzungen. Im Nigerdelta sind wir in der Deltalandschaft eines der größten Flüsse der Erde. Da muss man Hochwasserfragen berücksichtigen. Durch die Klimaveränderungen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Wasserspiegel in den nächsten Jahrzehnten um bis zu einem Meter steigen wird. Wir recherchieren, wie die Menschen heute dort leben, wie groß die Familien sind, wie der soziale Zusammenhang funktioniert – das ist wichtig für die Größe von Wohnquartieren und die Zuordnung sozialer Einrichtungen. Der dritte Faktor: Wovon leben die Menschen? Was kann man tun, um Arbeitsplätze zu schaffen, welche Flächen müssen wir dafür zur Verfügung stellen? Und das Letzte, das in der öffentlichen Diskussion immer zuerst kommt, eigentlich aber eine Servicefunktion ist, ist der Verkehr: Straßen, Bahnlinien, Brücken, Radwege und so weiter.

Können Sie aus diesen Arbeiten etwas mitnehmen, das Ihnen auch für die Stadtplanung in Europa hilft?

Jein. Wenn man sich intensiv mit verschiedenen Kulturen und Menschen und Landschaften beschäftigt, wird man sensibler für unterschiedliche Meinungen, Herangehensweisen und Überzeugungen. Und ich habe die europäische Stadt als ein hervorragendes Gefäß für das menschliche Zusammenleben viel mehr zu schätzen gelernt.

Kann nachhaltige und ökologische Stadtplanung zu einem Wettbewerbs- und Standortvorteil für eine Stadt werden?

Sicher. Die klimatischen Bedingungen, die Möglichkeiten für Erholung und Freizeit, Ausbildung für die Kinder – weiche Standortfaktoren werden in der Zukunft eine immer größere Rolle spielen. Städte wie Köln sind sich darüber bewusst geworden, dass man sich damit beschäftigen muss. Gerade haben wir den Auftrag erhalten, ein Zukunftskonzept für die Kölner Innenstadt für die nächsten zwanzig Jahre zu erarbeiten. Dabei ist das Erstaunliche: Bezahlt wird das von den Kölner Unternehmen, die schenken es der Stadt.

Hat die Stadt Köln kein Geld?

Das, und: Die Unternehmen haben wohl die Notwendigkeit einer solchen Planung eher erkannt.

Ist das die Zukunft: privates Geld für qualitativ hochwertige Stadtplanung?

Es ist ein Teil der Entwicklung, die hin zu einer besseren Kooperation zwischen Privatwirtschaft und der Politik geht.

Was sind in Deutschland die größten Fehler der Stadtplanung?

Dass man immer noch auf die grüne Wiese baut. Das ist absolut überflüssig. In der Region Frankfurt machen wir gerade einen regionalen Entwicklungsplan, wo irgendwelche Dörfer riesige Gewerbegebiete ausweisen dürfen, die kein Mensch mehr braucht.

Grund und Boden sind einfach billiger als im Stadtzentrum.

Ja, aber es wird auch noch gefördert. Je weiter weg Sie wohnen, desto weniger Steuern zahlen Sie. Eigenheimzulage, Pendlerpauschale – da werden Milliarden in die falsche Richtung ausgegeben.

Gibt es denn trotzdem positive Beispiele für ein Umdenken?

München ist ein gewisser Vorreiter. Dort gibt es schon seit zehn oder fünfzehn Jahren ein Gesetz der sozialverträglichen Bodenordnung. Die Entwickler und Besitzer von großen Grundstücken sind verpflichtet, soziale Einrichtungen mitzubauen, die Infrastruktur und sozialen Wohnungsbau zu integrieren. In Frankfurt haben wir damit begonnen, Bürogebäude aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Apartments und Wohngebäude umzuwandeln. Das ist noch ein recht kleines Programm, aber ein Anfang.

Und international?

Hongkong gehört mit Singapur zu den wenigen Städten, die in ihren zentralen Bereichen die wesentlichen Infrastrukturbereiche relativ gut im Griff haben, inklusive des öffentlichen Nahverkehrs.

Haben Sie eine Lieblingsstadt?

Barcelona.

Warum?

Diese Stadt ist einfach schön, lebendig, eine dichte, europäische Stadt – und dabei trotzdem noch überschaubar, eine Hafenstadt, eine große Kulturstadt. 

Der Architekt und Stadtplaner Albert Speer jr., 73, gehört zu den weltweit gefragtesten Experten für Fragen des Managements von Megastädten. Hauptsitz seines international tätigen Büros AS&P ist Frankfurt/Main. Speer war Professor für Stadt- und Regionalplanung an der TU Kaiserslautern.