Der Zusammenbruch des kommunistischen Staatenblocks in Ost- und Mitteleuropa ist 1991 in vollem Gange. Doch die Sowjetunion gibt es weiterhin, in Moskau herrscht noch die KPdSU unter dem für Reformen offenen Präsidenten Michail Gorbatschow. Als unsere Autorin zu einem Kongress nach Moskau reist, kommt es zum Putsch durch reaktionäre Kräfte
Reisefieber hatte ich schon, als ich zum Weltkongress des internationalen Bibliotheksverbandes nach Moskau aufbrach. Aber nur in Erwartung einer mir unbekannten Stadt, die in den beiden Jahren seit dem Mauerfall im Brennpunkt der Geschichte stand.
Unser Hotel liegt zentral, nur zehn Minuten Fußweg entfernt vom „Weißen Haus“, dem Parlament der mächtigen russischen Teilrepublik. Am Sonntag führt uns eine Stadtrundfahrt zum Roten Platz, wo die Soldaten zur vollen Stunde in abgezirkelter Genauigkeit und im Stechschritt den Wachwechsel am Lenin-Mausoleum unter den rubinroten Sowjetsternen auf den Kremltürmen zelebrieren.
Montag, 19. August
Am Vormittag hören wir vom Sturz Gorbatschows, der sich gerade in einem Urlaubsort auf der Krim befindet. Eine Gruppe Spitzenfunktionäre der KPdSU hat erklärt, er sei krank und deswegen nicht länger im Amt. Wir können es nicht fassen. Auf den Gesichtern der Reisebetreuerinnen spiegeln sich Wut und Entsetzen, aber auch sie halten sich mit Spekulationen zurück; aus dem Radio klingt nur ernste Musik, und die Sprachbarrieren werden nun immer hemmender für uns. Auch auf dem Kongress gibt es keine Informationen, alles läuft programmgemäß weiter, es herrscht eine summende Unruhe.
Nachmittags geraten wir in einen Verkehrsstau. Wir rennen über die verstopfte Straße, wo immer mehr Militärfahrzeuge und die ersten Ambulanzen zu sehen sind, und tauchen ab in die Metro. Menschentrauben lesen die auf den Bahnsteigen angeschlagenen Flugblätter: Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Republik, ruft zum Widerstand gegen die Putschisten auf. Als wir schließlich abgehetzt die Konzerthalle erreichen, wird gerade Mozarts „Kleine Nachtmusik“ gespielt. Wo mag Gorbatschow jetzt sein? In den offiziellen Reden gibt es keinen Hinweis auf die aktuelle politische Situation.
Nach Small Talk und kaltem Büfett folgt eine hervorragende Aufführung des klassischen Balletts „Romeo und Julia“. Angesichts des Sterbens auf der Bühne fragen wir uns, was draußen geschieht. Kommen wir noch bis zum Beginn der Sperrstunde nach Hause? Abends erfahren wir durch die Anrufe in Deutschland – wider Erwarten funktioniert die internationale Telefonleitung reibungslos – mehr über die Geschehnisse in der auseinanderbrechenden Sowjetunion als vor Ort.
Dienstag, 20. August
Der Weg zum Kongresszentrum führt uns am „Weißen Haus“ vorbei. Hier hat sich das Bild total verändert. Barrikaden werden gebaut aus allen Materialien, derer man habhaft werden kann. Der Aufgang ist abgesperrt, die Menschen sind übernächtigt. Junge Soldaten, fast noch Kinder, schlafen auf der Erde. In schnellem Tempo kreisen vier Panzer über den Vorplatz, von den Menschen umjubelt und mit Blumen und Geschenken empfangen. Es sind die Panzer, deren Besatzungen sich mit Jelzin solidarisiert haben.
Am Nachmittag sind die Brücken über die Moskwa gesperrt, die Straßen teilweise mit quer gestellten Trolleybussen blockiert. Auch die Panzer stehen noch vor dem „Weißen Haus“, umlagert von diskutierenden Menschen, die Kinder klettern auf ihnen herum. Die Luft ist schwül und von bleierner Schwere, die Lage ist angespannt.
Zur Sperrstunde sind wir wieder in unseren Hotelzimmern. Nun hören wir von der Straße Sprechchöre und Schreie, erste Schüsse und das unheimliche Rasseln der Panzerketten. Die Barrikaden brennen, Rauchwolken steigen empor, Ambulanzen heulen durch die Nacht. In diesem Moment sind wir zwar außer Gefahr, aber doch sehr hilflos und unsicher. Ich gehe irgendwann ins Bett und falle wie aus Protest in einen kurzen tiefen Schlaf.
Mittwoch, 21. August
Am nächsten Morgen treten die Spuren der Nacht zutage, die ausgebrannten Trolleybusse, wir hören von Toten, aber alles bleibt unklar. Auf den Straßen das gewohnte Bild: aggressiver Verkehr, Schlangen vor den Geschäften, tiefe Pfützen und Dreck, volle U-Bahnen.
Die deutsche Botschaft lässt durch den Attaché verlauten, man solle Ruhe bewahren. Doch einem Rückflug stehe nichts im Wege, gebuchte Nachkonferenz-Reisen solle man besser nicht antreten. Da weht durch die Hotelhalle die Nachricht, dass die Putschisten aufgegeben haben. Wie zwei Tage zuvor kann man die Botschaft kaum fassen und bleibt zunächst verhalten und skeptisch.
Wir brechen deutlich erleichtert auf zu einem Empfang im Kreml. Die Reden bleiben ein wenig pathetisch, sichtlich bewegt spricht der Vertreter des Kulturministers, eine Folkloregruppe tritt auf, und dann geschieht es: Der Kongress tanzt, jeder mit jedem, es gibt keine Grenzen, nur Erleichterung und Verbundenheit mit den russischen Kolleginnen und Kollegen.
Donnerstag, 22. August
Die Menschen sind erleichtert, aber Volksfeststimmung kommt nicht auf. Die Anspannung ist noch zu groß. Am Mittag die große Kundgebung vor dem russischen Parlament. „Jelzin, Jelzin, Glasnost“, tönen die Sprechchöre. Zu erkennen in den Menschenmassen sind immer wieder Abordnungen aus den einzelnen Republiken mit ihren Fahnen. Dann wird unter großem Jubel die rote Sowjetunion-Fahne auf dem Gebäude eingezogen und die russische weiß-blau-rote Fahne gehisst. Das Ende einer Ära.
Auf dem Arbat, der Moskauer Flaniermeile, haben die fliegenden Händler schnell auf die neue politische Situation reagiert. Sie verkaufen die klassischen Matrjoschka-Puppen, bemalt mit Politikergesichtern, und haben schon eine neue Fassung im Angebot. Nicht mehr Gorbatschow ist jetzt der Größte, nein, Jelzin bildet die Außenhülle und beherbergt in seinem Bauch vier Politiker: Gorbatschow, Breschnjew, Stalin und Lenin.
Ulla Brake-Gerlach (Foto) arbeitete 1991 als Bibliothekarin an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und war bei ihrer Reise nach Moskau 49 Jahre alt.