„Ich bitte Sie, kurz in sich zu gehen. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Sie einen Anschlag erleben. An wen denken Sie, und wen würden Sie anrufen und sagen: ‚Ich habe überlebt‘?“ Es ist die Premiere des Theaterstücks „Herzschläge – Die Stille nach der Explosion“. Der Saal im französischen Kulturzentrum in Kabul ist bis zum letzten Platz besetzt. Viele Größen der afghanischen Kulturszene sind gekommen.
Das Stück beginnt. Drei Männer schleppen einen leblosen Körper über die Bühne. Weitere Menschen laufen hysterisch durcheinander. Das Orchester spielt lang gezogene tiefe Töne. Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Es riecht nach Rauch und verbrannter Haut. Die Fiktion ist auf einmal Realität: Im Zuschauerraum hat sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt.
Angriff auf die afghanische Kulturszene
In den sechs Folgen des Podcasts porträtieren Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck Menschen, die diesen Anschlag der Taliban überlebt haben. Da ist zum Beispiel die junge Malerin Faiq Sultanani. Sie ist in den Minuten nach der Explosion wie gelähmt. Denkt, wie viele andere zunächst, der Anschlag sei Teil der Inszenierung. Eine Frau aus dem Sicherheitsteam hatte sie zuvor am Eingang gebeten, ihre kleine Tochter, die das Stück so gerne sehen wollte, mit in den Saal zu nehmen. Doch Sultanani hat das Kind aus den Augen verloren und macht sich schwere Vorwürfe. Bis heute weiß sie nicht, ob das Kind überlebt hat. Während sie ihre Geschichte erzählt, bricht sie immer wieder in Tränen aus.
Gulab Bamik stand am Abend des Anschlags als Schauspieler auf der Bühne. Nach der Tat kann er seinen besten Freund nicht finden. Er rennt zurück in den Saal – gerät in Panik. Als sein Freund seinen schweren Verletzungen kurze Zeit später im Krankenhaus erliegt, erfüllt ihn eine unfassbare Leere. „Alles in meinem Leben ist still geworden. Vor allem mein Leben als Künstler.“ Bamik hält den Schmerz nicht aus und beschließt, dass er nie wieder Theater spielen will.
Bamik und Sultanani vergessen nach dem Anschlag ständig irgendwas. Sie können sich nicht an Gespräche erinnern, die sie gerade geführt haben. Sie verpassen Verabredungen. Ihr Zeitgefühl gerät durcheinander, und sie haben mit Schwindelanfällen zu kämpfen.
Für die islamistische Taliban-Bewegung widersprechen Musik, Theater oder Kunst den Lehren der Scharia. Während ihrer fünfjährigen Terrorherrschaft von 1996 bis 2001 waren Kino, Fernsehen, Theater, Musik und Tanz in Afghanistan verboten. Seit einigen Jahren sind die Taliban erneut auf dem Vormarsch in Afghanistan und gewinnen an Stärke. Derzeit beherrscht die Regierung weniger als die Hälfte der Bezirke des Landes. Etwa ein Drittel sind laut Militärangaben umkämpft.
In den Abgrund blicken
In der ersten Folge des Podcasts gibt es ungefähr bei der Hälfte der Folgen einen abrupten Szenenwechsel. Nach den dramatischen Schilderungen aus dem Theater sprechen Schenck und Wurmb-Seibel plötzlich über ihre eigene Angst. Die beiden sollten am Abend des Anschlags eigentlich selbst im Publikum sitzen. Sie lebten damals als Auslandskorrespondenten in Kabul. Facettenartig berichten sie im Podcast von ihrer Zeit in Kabul, aber auch von Ängsten, die sie bereits ihr gesamtes Leben begleiten. Von Panikattacken, Bindungsängsten oder der Angst vor dem Tod. Sehr detailliert erzählt Wurmb-Seibel über ihre Angst, so zu werden wie ihre Mutter: „Es gibt eine schwarze Stelle über meinem Herzen, die brennt.“
Nach der ersten Intervention der beiden wird man als Zuhörerin kurz stutzig. Rausgerissen aus der Szenerie aus Kabul und rein in die Gedankenwelt zweier Journalisten aus Deutschland. Doch das funktioniert erstaunlicherweise sehr gut. Schenck und Wurmb-Seibel nehmen die Reflexionen ihrer Protagonist*innen um Trauer und Angst zum Anlass, in ihre tiefsten persönlichen Abgründe zu blicken. So spinnen sie eine Geschichte, die schnell über die Schrecken des Terrors hinausgeht und alltägliche Ängste verhandelt.
Mut, weiterzumachen
Die Berichte von Sultanani, Bamik und den anderen Protagonist*innen der Serie sind zum Teil extrem traurig und bedrückend. Doch so viel es um Trauer, um Verlust und Aufarbeitung geht, so viel geht es auch darum, der Angst zu trotzen. Sultanani, die monatelang nicht malen kann, schafft es schließlich, ihre Trauer in ihren Bildern zu verarbeiten, und der Schauspieler Bamik findet eine neue Zukunft als Schauspieler in Deutschland und sagt: „Wenn wir still bleiben, dann sterben wir.“
Das Land zu verlassen kommt nicht für alle infrage. Viele der Künstler und Künstlerinnen wollen den Taliban im Land trotzen und weitermachen. Dabei macht die Stimme der berühmten afghanischen Schauspielerin und feministischen Aktivistin Leena Alam Mut. Sie ist bekannt aus etlichen Fernsehfilmen, in denen sie starke, emanzipierte Frauen spielt . Auch sie war am Abend des Attentats im Theater. Für sie war das Theater in Kabul einer der wenigen Orte, an denen sie sich frei fühlt. Und doch macht sie weiter, lässt sich nicht abschrecken von anonymen Anrufen und Hassmails. „Wir sind so eine kleine Community von Theaterschauspielern und Filmemachern in diesem Land“, sagt Leena Alam in der dritten Folge, „wenn wir jetzt aufhören, was passiert dann mit dieser Kultur?“
Titelfoto: Haider Yasa / picture alliance / AP Photo