Als eine Studentin aus Vietnam vor drei Jahren in der Cafeteria des Oberlin College in Ohio ein sogenanntes Bánh Mì bestellte, war ihre Enttäuschung groß. Das typisch vietnamesische Baguette war statt mit dem traditionellen Mix aus Pâté, Fleisch, eingelegtem Gemüse und Koriander nur mit Krautsalat und faserigem Schweinefleisch belegt. Das Brot war nicht mal ein Baguette, sondern ein italienisches Ciabatta.
Nun hätte Diep Nguyen den Snack liegen lassen oder mit dem Koch sprechen können, stattdessen beschwerte sie sich bei der Universitätszeitung, die in einem Artikel gleich noch andere Studentinnen und Studenten zu den mageren Kochleistungen der Mensaköche zitierte. So fanden sich japanische Studenten, für die das Sushi eine einzige Frechheit war – zusammengeklatscht aus halbgarem Reis und altem Fisch. Das alles, so die geschmackssensible Studentenschaft, sei mehr oder weniger eine Verhöhnung der kulinarischen Traditionen anderer Länder.
An vielen Colleges ist es mittlerweile verpönt, sich zu Halloween mit Federschmuck zu verkleiden
„Cultural Appropriation“, zu Deutsch „kulturelle Aneignung“, lautet das Schlagwort zu dieser Debatte. Darunter versteht man unter anderem die Verfälschung anderer Kulturen, etwa durch Nachahmung oder Kommerzialisierung. So ist es an vielen US-Colleges mittlerweile verpönt, sich zu Halloween mit Federschmuck zu verkleiden oder auf einer Tequila-Party mit Sombrero und dickem Schnauzbart als Mexikaner. Auch Rastazöpfe bei Weißen gelten manchen als absolutes No-Go, weil nur echte Rastafaris das Recht hätten, sie zu tragen.
Der Sandwich-Protest von Oberlin schaffte es in viele große Zeitungen in den USA und Europa, auch Fernsehsender berichteten. Auf diese Weise entstand der Eindruck einer überempfindlichen Studentenschaft, die ständig neue Opfer schafft und das Land mit Denk- und Sprechverboten überziehen will. In den USA, wo „Freedom of Speech“, also die Redefreiheit, seit jeher zu den Grundpfeilern der Gesellschaft zählt, ein besonders harter Vorwurf.
Man streitet leidenschaftlich
Tatsächlich waren die liberalen Universitäten in den USA schon in den 1960er- Jahren der Ort, an dem besonders um Minderheitenrechte gekämpft und die Rassendiskriminierung thematisiert wurde. Mitte der Achtziger wehrten sich die Studierenden zudem gegen einen Lehrplan, in dem sich nur die Gedanken „toter europäischer weißer Männer“ wiederfanden – damit meinte man in erster Linie die Philosophen der Aufklärung. Stattdessen sollten weibliche Perspektiven und die anderer Kulturkreise Raum finden.
Auch in Deutschland nahm man die Klagen über die Diskriminierung von Minderheiten in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend ernster. Dass das Wort „Schlitzauge“ eine Beleidigung darstellt, dürfte mittlerweile jeder wissen, Negerküsse und Zigeunerschnitzel sind vom Speiseplan verschwunden. Man streitet leidenschaftlich darüber, ob es Freunde oder nicht viel mehr Freund_innen heißen muss, um Frauen nicht außen vor zu lassen. An der Berliner Alice Salomon Hochschule, vielleicht so was wie ein deutsches Oberlin, stritt man monatelang über ein Gedicht an einer Häuserwand, in dem es – übersetzt aus dem Spanischen – hieß: „Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer.“ Einige Studentinnen und Studenten fanden, dass diese Zeilen Frauen auf die Rolle der schönen Muse für männliche Künstler reduzierten, und erreichten schließlich die Entfernung des Gedichts.
Political Correctness hat viel erreicht
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ – so steht es im Grundgesetz, auf das sich auch jene berufen, die die Sicht- und Handlungsweisen einer weißen, wohlhabenden und von Männern dominierten Gesellschaft infrage stellen zugunsten einer bunteren, diskriminierungsfreien Welt. So hat es zum Beispiel die LGBTI-Bewegung geschafft, dass Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau fühlen, ernster genommen werden. Im August legte die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf vor, der in Dokumenten wie dem Reisepass ein drittes Geschlecht vorsieht („divers“).
Kritikern und Kritikerinnen der Political Correctness ist dagegen schon der Begriff verhasst, sie benutzen ihn nur noch höhnisch oder mit Spott. Für sie beschreibt PC das Projekt einer arroganten linken Elite, die sich um jede noch so kleine Minderheit kümmert, aber nicht mehr um die Nöte einer großen Mehrheit, der es egal ist, ob es in Zukunft Unisex-Toiletten gibt, sondern die sich stattdessen schlichtweg fragt, wie sie über die Runden kommt. Wie sie einen Job bekommt und die Miete zahlen soll. „Die Fixierung auf Vielfalt (...) hat eine Generation von Liberalen und Progressiven hervorgebracht, die sich auf narzisstische Weise vor den Problemen derer verschließt, die außerhalb ihrer selbst definierten Gruppen stehen“, so Mark Lilla, Professor an der New Yorker Columbia University, in einem viel diskutierten Beitrag für die „New York Times“. Der amerikanische Liberalismus sei in den vergangenen Jahren von einer Hysterie bezüglich Rasse, Geschlecht und sexueller identität ergriffen worden.
Lillas Worte würde vermutlich auch Donald Trump unterschreiben, der selten eine Gelegenheit auslässt, sich über Menschen lustig zu machen, die in einem falsch belegten Sandwich eine Beleidigung sehen.
Dem „Das darf man nicht mehr sagen“ der PC-Bewegung haben ihre Kritiker mittlerweile ein empörtes „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ entgegengesetzt
Dem „Das darf man nicht mehr sagen“ der PC-Bewegung haben ihre Kritiker mittlerweile ein empörtes „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ entgegengesetzt, das selbst dann angestimmt wird, wenn niemand etwas gegen eine Äußerung hat. Manche Beobachter stellen angesichts der teilweise vehementen Kritik an der Political Correctness denn auch die Frage, ob sie nicht absichtlich zum Schreckgespenst aufgebaut werde, um notwendige Schritte in eine diskriminierungsfreie Gesellschaft zu verhindern. „Das Ziel rechter PC- Kritik war es stets, Gruppen, die sich in ihrem Kampf um Anerkennung auf die Grundrechte beziehen, zurück auf ihre vermeintlich angestammten Plätze zu verweisen: dahin, wo sie herkommen – an den Herd (Frauen), in ihre Heimatländer (Migranten und Flüchtlinge), ins Abseits (Schwule, Lesben und andere ‚Perverse‘)“, schreibt der Autor Christian Staas in der „Zeit“.
Tatsächlich findet sich das Beispiel von dem verunglückten Baguette seit Jahren in den Medien wieder, die Geschichte ist anscheinend zu schön, als dass sie nicht ein Journalist vom anderen abschreibt. „Dass man die immer gleichen Beispiele über die überbordende Political Correctness wiederholt, zeugt davon, dass es offenbar nicht ständig neue berichtenswerte Vorfälle gibt. Tatsächlich regen sich viele – Studenten wie Professoren – am College über solche Auswüchse von Political Correctness auf“, so die Schriftstellerin Tanja Dückers, die am Oberlin College als Gastprofessorin unterrichtet hat. „Es gehört, wie in Deutschland, längst zum guten Ton, sich darüber zu empören. Ich habe keinen Studenten angetroffen, der so etwas verteidigt hätte.“
In den Internetforen von Oberlin ergab sich im Übrigen eine muntere und gar nicht biestige Diskussion über das Essen im globalen Kontext. Manche merkten an, dass man in einer normalen Cafeteria nun mal keine authentische Kost erwarten könne, andere meinten, dass das Bemühen der Köche um mehr Internationalität doch sehr löblich sei – und einer wies darauf hin, dass auch das echte Bánh Mì eine lupenrein koloniale Kreation sei. Schließlich hätten die Franzosen das Baguette nach Vietnam gebracht, um es mit den dortigen Gepflogenheiten zu fusionieren.