Frau Kurtenbach, Sie forschen zum Leben junger Menschen in Südamerika. Wie geht es Jugendlichen in der Region?
Wenn ich in der Großstadt lebe und aus gut situiertem Elternhaus komme, dann ist es fast wie in Hamburg, Berlin oder Köln. Wenn ich aber arm bin, indigen und noch dazu eine junge Frau auf dem Land, dann kann ich schon glücklich sein, wenn ich ein Minimum an Grundschulbildung bekomme.
Viele junge Leute wandern aus – zum Beispiel in die USA.
Eine würdige Arbeit zu finden, also nicht nur zu überleben, sondern zu leben, auch Vorsorge zu treffen bei Krankheit oder für Kinder, das alles ist für einen Großteil der lateinamerikanischen Jugendlichen extrem schwierig.
Woran liegt das?
Die Wirtschaft beruht in vielen lateinamerikanischen Ländern auf Rohstoffen. Öl ist ein klassisches Beispiel, aber auch Gold, Silber, seltene Erden. Das zieht sich durch die lateinamerikanische Geschichte wie ein roter Faden. Im 21. Jahrhundert hat das ein gewisses Maß an Gewinnen geschaffen. Aber dafür braucht es eben kaum Arbeitskraft, weil das meiste mit Maschinen gemacht wird.
Gibt es keine Industrie, keine großen Arbeitgeber?
Früher haben vor allem junge Frauen in Textilunternehmen für den Weltmarkt produziert. Aber in dem Moment, in dem diese Frauen für ihre Rechte und soziale Mindeststandards eingetreten sind, sind die Unternehmen abgewandert, etwa nach Bangladesch. Das internationale Kapital geht dorthin, wo es am schnellsten Gewinn macht.
„Es gibt in Südamerika eine relativ starke Zivilgesellschaft. Sie hat vielen Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten getrotzt.“
Anfang der Nullerjahre sahen viele junge Leute Hoffnung in der sogenannten „rosa Welle“. In vielen Ländern Südamerikas hat die „neue Linke“ versprochen, alles anders zu machen. Was wollte sie erreichen?
Die Hoffnung war, dass die Einnahmen des Staates nicht nur einigen wenigen zugutekommen, sondern der breiten Bevölkerung. Weniger Ungleichheit, mehr Chancen am Arbeitsmarkt, mehr Bildung und ein besseres Gesundheitssystem. Aber man muss stark unterscheiden zwischen den Ansätzen. Unter dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva war das Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“. Unterstützung war daran geknüpft, dass Kinder zur Schule gingen und später arbeiten konnten. In Venezuela wurde das Geld aus dem Erdöl an die eigenen Anhänger verteilt, damit sich die Leute etwas kaufen konnten.
Das hat funktioniert?
Seit den 1960er-Jahren hieß es in Venezuela: Wir müssen die Einnahmen aus dem Öl nutzen, um ein tragfähiges Entwicklungsmodell zu bauen. Aber niemand hat es gemacht. Jetzt, wo der Preis für Erdöl im Keller ist, lebt die überwiegende Bevölkerung wieder in Armut. Die Eliten, die von dem Boom am meisten profitiert haben, haben ihr Geld ins Ausland gebracht, nach Miami oder Europa.
Jetzt tobt in Venezuela sogar ein Machtkampf. Oppositionsführer Guaidó sieht sich als legitimer neuer Präsident, Präsident Maduro will nicht abtreten.
In Venezuela hat die Opposition die Wahlen zur Nationalversammlung gewonnen, und Präsident Maduro sagt: Dann mache ich eben eine verfassunggebende Versammlung, und das Parlament hat nichts mehr zu sagen. Das ist schlicht undemokratisch, das ist autokratisches Verhalten.
Venezuela ist nicht das einzige Sorgenkind. In Brasilien ist mit Jair Bolsonaro ein Präsident an der Macht, der Folter befürwortet, sich positiv auf die Militärdiktatur bezieht, kein Problem damit hat, die Umwelt zu zerstören, und dem Rechte von Minderheiten egal sind.
Lateinamerika ist gesellschaftspolitisch sehr konservativ. Es gab Fortschritte nach der Jahrtausendwende, aber nun organisiert sich der rechte Widerstand im Windschatten anderer Regionen wie den USA oder Europa. Wenn etwa Donald Trump sagt, dass er Bolsonaro toll findet, dann ist das für die Opposition in Brasilien ein großes Problem.
Gibt es auch Gründe, die in Brasilien selbst liegen?
Solange die strukturellen Probleme wie Armut, Ungleichheit und Diskriminierung nicht ansatzweise bearbeitet sind, ist ein solcher Rückschritt in autokratische Strukturen viel wahrscheinlicher. Die Demokratie ist in vielen Ländern Südamerikas massiv unter Beschuss. Wir sehen Rückschritte in den zentralen Komponenten: freie Wahlen, ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Versammlungsfreiheit, Rechte von Minderheiten. Das ist übrigens kein Links-Rechts-Problem. In vielen Ländern Lateinamerikas herrscht hohe soziale Ungleichheit, es gibt viel Gewalt. Dass in so einem Kontext die einfachen Antworten verfangen, das ist nicht erstaunlich.
„Eine Mine soll ausgebeutet, nach Öl gebohrt werden. Die Regierungen kriminalisieren vielfach den Protest, die Polizei schießt, der Konflikt eskaliert.“
Sprechen wir über Gewalt. Südamerika steht immer wieder in der Kritik wegen Menschenrechtsverletzungen. Aktivisten verschwinden oder werden getötet.
Das hat mit Machtpolitik zu tun. Als Demokratie muss ich mich zu gewissen internationalen Verträgen verpflichten, zu den Menschenrechten. Aber dann kommen wirtschaftliche Interessen dazu: Eine Mine soll ausgebeutet, nach Öl gebohrt werden. Die Regierungen kriminalisieren dann vielfach den Protest, die Polizei schießt, und der Konflikt eskaliert.
In einigen Ländern werden die Rechte von Indigenen verletzt, obwohl sie durch Abkommen geschützt sind.
Es stimmt, die meisten Länder Südamerikas haben ein internationales Abkommen unterzeichnet, das die Rechte von Indigenen schützt. Darin steht, dass sie angehört werden müssen, bevor Schürfrechte und Lizenzen vergeben werden. Aber entweder findet das nicht statt, oder die Regierung sagt, das ist nicht bindend, denn die Gemeinden wollen das in der Regel nicht. Oder aber, besonders perfide: Sie sagen, die Bewohner können zwar bestimmen, was auf ihrem Land passiert, aber alles ab einem Meter unter der Erde gehört sowieso dem Staat.
Die Waorani, eine indigene Bevölkerungsgruppe in Ecuador, haben kürzlich per Gerichtsbeschluss Ölbohrungen auf ihrem Gebiet verhindert.
Das zeigt, wie wichtig Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Gerichte sind. Nun ist die Frage, ob sich die politischen und wirtschaftlichen Eliten auch daran halten. In Ecuador besteht da momentan Hoffnung, in anderen Ländern nicht zwingend.
Welche Rolle spielt die Kolonialzeit, die Zeit der Unterdrückung durch Spanier und Portugiesen, in heutigen Konflikten?
Das ist in fast allen Konflikten ein Thema. Gerade in Chile, das oft als südamerikanisches Musterbeispiel gilt, sieht es da gar nicht gut aus. Chile hat im 19. Jahrhundert die Mapuche im Süden des Landes unterdrückt. Mit der Demokratisierung konnten die sich besser organisieren und ihre Rechte einfordern. Und nun gibt es wieder massive Repression.
Ein grundlegendes Problem, sagen Sie, ist, dass kein nachhaltiges Wirtschaftsmodell für Südamerika existiert. Gibt es denn einzelne Länder, die es anders machen?
Der indigene Präsident Evo Morales ist in Bolivien mit einem breiteren Entwicklungsmodell angetreten. In der Salzwüste Uyuni gibt es große Mengen an Lithium, das für Batterien sehr wichtig ist. Morales wollte das selbst abbauen und nicht internationalen Firmen überlassen, die die Gewinne für sich verbuchen. Aber das ist auch eine Frage von Technologie und Infrastruktur. Das kostet sehr viel Geld und geht auch nicht von heute auf morgen.
Wo noch?
Der vormalige Präsident von Ecuador, Rafael Correa, hat vor einigen Jahren gesagt, dass er das Erdöl im Amazonas im Boden lässt, wenn ihm die internationale Gemeinschaft den finanziellen Ausfall kompensiert. Das wäre gut für die Umwelt gewesen und für die Indigenen, die im Urwald leben. Am Ende haben aber nicht genügend Länder mitgemacht. Da geht es auch um internationale Interessen. Aus Südamerika sollen eben die Rohstoffe kommen.
Können es südamerikanische Staaten dann überhaupt von alleine schaffen?
Es gibt Möglichkeiten. Kolumbien könnte die Kornkammer Südamerikas werden mit ganz unterschiedlichen landwirtschaftlichen Produkten, weil es weltweit eines der Länder mit der höchsten Biodiversität ist. Stattdessen wird für den Export fast nur Palmöl angebaut.
„Das Negativszenario wäre, dass sich autoritäre Politik wie in Venezuela oder Brasilien hält. Dass die Interessen von einigen wenigen über die Menschenrechte gehen.“
In Südamerika gibt es ganz unterschiedliche Landschaften, hohe Berge, Wüste, Meer, viele kulturelle Schätze. Was ist mit dem Tourismus?
Im Prinzip ja, solange es kein Massentourismus wird. Das wird verheerende Folgen haben, das sehen wir in der Karibik mit den großen Kreuzfahrtschiffen, die vor allem Verschmutzung hinterlassen. Und das Geld bleibt oft bei den internationalen Konzernen.
Welche Zukunft sehen Sie für Südamerika?
Das Negativszenario wäre, dass sich autoritäre Politikansätze wie in Venezuela oder Brasilien halten. Dass die Interessen von einigen wenigen über die Menschenrechte gehen.
Und das positive Szenario?
Dass es doch einen Weckruf gibt. Dass sich die politischen Kräfte, die an einem friedlichen, nachhaltigen Wandel interessiert sind, auf zukunftsfähige Entwicklungsmodelle einigen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Aber es gibt in Südamerika eine relativ starke Zivilgesellschaft. Die hat vielen Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten getrotzt.
Wie kann die sich durchsetzen?
Sie muss sich politisch breit engagieren. Es gibt in Lateinamerika einen tiefen Graben zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Parteien sind sehr schlecht angesehen und werden als korrupt wahrgenommen. In Parlamenten werden aber Entscheidungen getroffen. Wenn die zivilgesellschaftlichen Anliegen dort nicht vertreten sind, sitzen dort nur Kräfte, die so weitermachen wollen wie bisher.
Was können wir von hier aus tun?
Hinschauen. Gerade bei Gewalt nicht sagen: Huch, das war jetzt ein Ausreißer. Man kann Gruppen, die Demokratie und Menschenrechte einfordern, unterstützen. Die Zivilgesellschaft in Deutschland kann bei der Vernetzung helfen. Politik und Wirtschaft können ihre Partner auf die Einhaltung von demokratischen und menschenrechtlichen Mindeststandards verpflichten. Und nicht erst laut schreien, wenn es zu spät ist.
Titelbild: Ronaldo Schemidt/AFP/Getty Images