Kurz vor Ostern, als es endlich Frühling wurde, sagte Ewa* zu Frau Matthes*, dass sie sich ein Fahrrad kaufen möchte. Sie habe da eines gesehen, das ihr gut gefalle, am Sonntag nach dem Kirchgang, im Schaufenster beim Händler in der Stadt. Sie habe etwas Geld beiseitegelegt.
Aber Ewa, Liebes, sagte Frau Matthes, nimm doch meins. Ich schenke es dir.
Ewa zierte sich, ein Fahrrad, fand sie, das sei doch ein allzu großes Geschenk, nicht wahr. Das kann ich nicht annehmen, sagte sie.
Nimm es bitte, Liebes, sagte Frau Matthes. Ich brauche es nicht mehr, das weißt du doch.
Gertrud Matthes wird nie mehr Fahrrad fahren. Seit sie vor drei Jahren einen Schlaganfall erlitten hat, sind ihre Gliedmaßen beinah vollständig gelähmt. Nur die linke Hand kann sie noch schwach bewegen, es reicht gerade, um auf den Knopf zu drücken, mit dem sie das Rückenteil ihres Bettes hochfahren kann. Im Sitzen sieht sie dann den Kirschbaum im Garten und mitunter einen Vogel, der auf einem Zweig hockt. Dieser Ausblick, sagt Frau Matthes, werde ihr niemals langweilig, die Sonne, der Regen, der Schnee, der Zug der Wolken, die Färbung der Blätter, das sich allmählich verändernde Licht, das ist doch herrlich, sagt sie, das habe ich früher nie wahrgenommen. Wenn sie so redet, klingt sie wie jemand, der Glück gehabt hat.
Hätte die Nachbarin, die sie zum Kaffeekränzchen besuchen wollte, sie damals nicht durchs Fenster im Flur liegen sehen, da bei der Telefonbank, wo sie zusammengebrochen war, und hätten die Männer vom Rettungsdienst nicht die Tür eingetreten, sagt Frau Matthes, dann wäre es aus gewesen mit mir, so schnell kann es gehen, dann wäre ich jetzt schon bei meinem Helmut.
Nun ist sie bei Ewa, und Ewa ist bei ihr, das ist das ganze Glück, das sie hat. Liebes, so nennt Frau Matthes ihre polnische Pflegerin, die rund um die Uhr für sie da ist, ihr das Kissen richtet, damit sie den Kirschbaum besser sehen kann, die für sie kocht, sie füttert, wäscht und tröstet, die ihre Lieblingsmusik auflegt von Roger Whittaker und Karel Gott, mit ihr die Vorabendserien schaut, ihr die feine Bluse anzieht, wenn der Hausarzt kommt, und mit ihr betet vor dem Einschlafen. Gertrud Matthes, geboren 1938 in Cloppenburg, und Ewa Sobczak, geboren 1969 in Gliwice, sind eine kleine Familie, die das Schicksal zusammengeführt hat, der sogenannte Pflegenotstand, die Suche nach einem besseren Einkommen und eine Agentur für 24-Stunden-Betreuung. Eine kranke Mutter und ihre bezahlte Tochter. Eine, wenn man so will, moderne Familie.
Experten schätzen, dass zwischen 150.000 bis 300.000 osteuropäische Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten arbeiten, viele davon schwarz. Sie betreuen alte Menschen, die nicht im Heim leben möchten, aber auch keine Angehörigen haben, die sich umfassend um sie kümmern könnten oder wollten. Die Zeiten, in denen die Kinder das Haus übernahmen und im Gegenzug die Eltern versorgten, sind längst vorüber.
Auf Gertrud Matthes traf beides zu. Sie hatte niemanden, der sich um sie kümmern konnte, wollte aber auch nicht in ein Seniorenstift ziehen, den Friedhof der Lebenden, wie sie es nennt. Ihr Mann Helmut ist lange tot, er starb 1999 an Lungenkrebs, der Sohn lebt weit entfernt in Süddeutschland, er habe, sagt Frau Matthes, beruflich sehr viel um die Ohren. In einem Heim vor sich hin zu vegetieren, gelähmt, aber bei vollem Bewusstsein, das war für sie schon vor dem Schlaganfall ausgeschlossen. Für den Fall der Fälle hatte sie Informationsbroschüren von Pflegedienstleistern gesammelt.
Der Sohn kannte ihren Wunsch, er reiste an und regelte das Notwendige: die Bewilligung des Pflegegrads 5, den Umbau des Hauses, den Vertrag mit der Agentur, dann übergab er seine Mutter an ihre neue Tochter. Als Gertrud Matthes drei Monate nach ihrem Schlaganfall nach Hause zurückkehrte, war Ewa schon dort. Sie war in das alte Kinderzimmer gezogen, über das Bett hängte sie ein Bild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau.
Im Deutschkurs, den sie in Vorbereitung auf ihre Tätigkeit absolvierte, lernte sie die Vokabeln der Pflege, ból heißt Schmerz, glód heißt Hunger, zmeczenie heißt Müdigkeit. Den Rest hat sie beim Zuhören gelernt. Frau Matthes erzählt gern und viel von früher, von ihrem Helmut, der Kaminbauer gewesen sei und viel geraucht habe, ob der Lungenkrebs nun vom Zigarettenkonsum gekommen sei oder vom Kontakt mit dem Asbest, das könne man nicht sagen. Vom guten Leben, das sie einst hatten, vom letzten gemeinsamen Urlaub auf Wangerooge. Von ihrem Sohn – ein ganz heller Kopf –, er sei nach dem Abitur gleich fortgezogen in die große Stadt, das müssten die jungen Leute ja tun, was sollten sie denn hier. Er schreibe ihr regelmäßig. Ewa sitzt neben dem Bett auf einem Hocker, streichelt Frau Matthes’ Hand und nickt manchmal. Sie versteht alles und sagt wenig.
Etwa 1.200 Euro netto können polnische Pflegerinnen in Deutschland verdienen, das ist das Doppelte des Gehalts, das Ewa zuvor als Erzieherin in einem Kindergarten in Polen bezog. Dafür hat sie ihr Leben in den Dienst einer fremden Frau gestellt, es ist entsagungsreich und aufopfernd, sechs Tage in der Woche, elf Monate im Jahr, 900 Kilometer von daheim entfernt. Ihre Tochter, sagt sie, studiere Jura in Warschau, der Vater sei fort, lange schon, mehr möchte sie nicht berichten über ihr Leben in Polen, in das sie jetzt nur noch für drei Wochen im August und für ein paar Tage an Weihnachten zurückkehrt. Darauf freue sie sich sehr, aber zugleich falle es ihr schwer, Frau Matthes zurückzulassen. Die Mitarbeiter der Sozialstation kümmern sich in dieser Zeit um sie, aber das ist was anderes, sagt Frau Matthes, das kann man nicht vergleichen.
In dem kleinen Haus, das die beiden seit nun fast drei Jahren gemeinsam bewohnen, riecht es, als hätte jemand auf einer Krankenhausstation Kuchen gebacken. Die Heizungsluft flirrt, ein Harlekin aus Keramik sitzt auf der Fensterbank und beobachtet Frau Matthes, die regungslos im Bett liegt, und Ewa, die sie umkreist und umsorgt und ihr so nah kommt wie ein Mensch sonst nur sich selbst. Liebes, sagt die kranke Mutter, gibst du mir etwas zu trinken, bitte.
Den Großteil ihres Gehalts schicke sie ihrer Tochter, sagt Ewa. Für sich brauche sie kaum etwas, Kost und Logis sind von Vertrags wegen frei. Und wofür soll sie es sonst ausgeben, an den Sonntagen, die sie freihat, in dieser Kleinstadt, die daliegt wie erstochen von der Durchgangsstraße. Manchmal trinkt sie einen Kaffee in der Fußgängerzone, aber der komme ihr, sagt sie, zu teuer vor, und Kuchen backe sie ohnehin lieber selbst. Auch ihre freien Tage verbringt sie inzwischen meistens mit Frau Matthes.
Als sie die Tür des Kinderzimmers hinter sich geschlossen habe, damals, am ersten Abend in Deutschland, sei es ihr vorgekommen wie ein Gefängnis. Gäfänknis, sagt sie, und es klingt für einen kurzen Moment so, wie es tatsächlich gewesen sein muss. Dann lacht sie absichtsvoll, als wollte sie damit etwas zurücknehmen, das sie nicht hätte sagen sollen. Aber jetzt fühle auch sie sich hier daheim, bei Frau Matthes. In den akkurat geschlagenen Scharten der Sofakissen liegen Kuscheltiere, ein Schaf, ein Hund und ein Schimpanse, wie in einem Museum der Gemütlichkeit. In der Küche hängt ein Wandkalender mit Landschaftsaufnahmen aus der Region, herausgegeben von einer örtlichen Tankstelle. Darin stehen die Termine des laufenden Monats auf Polnisch. Lekarz steht da, am Dienstag kommt der Hausarzt, pedikiurzysta, am Mittwoch kommt der Fußpfleger. Einmal in der Woche bringt der Sohn der Nachbarin die Lebensmittel vorbei. Wenn es Frau Matthes gut geht, gehe es ihr auch gut, sagt Ewa. An das Heimweh habe sie sich gewöhnt, neben der Schwarzen Madonna von Tschenstochau hängen nun ein paar Fotos. Auf einem ist eine junge Frau zu sehen, die sich für ein Maifest zurechtgemacht hat, es ist Ewas Tochter, sie heißt Nadia und ist 22 Jahre alt.
Im ehemaligen Schlafzimmer des Ehepaars Matthes, das jetzt einem Arzneimittellager gleicht, steht noch der große Eichenschrank, darin hängen die alten Sonntagskleider. Frau Matthes hat sie Ewa vermacht, erst eins, dann noch eins, schließlich alle, so was, sagt Frau Matthes, trägt man doch heute wieder. Sie stehen dir so gut, Liebes. Sie wünscht sich, dass Ewa einmal zum Schützenfest geht oder zur Kirmes, vielleicht lernt sie dort einen netten Mann kennen, sagt Frau Matthes, es muss doch manchmal recht einsam sein, allein mit mir, nicht wahr, Liebes. Ach nein, es geht, sagt Ewa Sobczak und lächelt.
Das Fahrrad hat sie schließlich doch angenommen. Den Sommer über hat sie abends ein paar Ausflüge gemacht, den Fluss entlang, in die Wiesen, durch den Wald. Vielleicht, sagt sie, werde sie bald einmal eine polnische Kollegin besuchen, die ebenfalls eine alte Frau pflege, in einem Dorf westlich von hier, etwa 20 Kilometer entfernt.