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Jetzt wird’s ernst

Am Sonntag musste sich Brasilien entscheiden: Lieber ein Präsident, der als faschistischer Erneuerer gilt – oder einer, der für das korrupte System steht? Für Frauen und LGBT ist die Sache klar

Am Samstag, den 29. September, haben sich rund 100.000 Menschen auf dem Largo da Batata versammelt, einem weiten, grau anmutenden Platz im Westen São Paulos. Bis spät in die Nacht sind die Demonstranten durch die breiten Straßen der größten Stadt Brasiliens marschiert. Banner wurden über den Köpfen Hunderter Personen gespannt, sodass sie nur von weit oben aus der Luft zu lesen waren: „Frauen im Kampf für die Demokratie“, „Frauen gegen den Faschismus“, dazwischen Tausende Bilder von Adolf Hitler und immer wieder „#elenao“, „er nicht“. 

Bolsonaros Wahlprogramm, kurz zusammengefasst: Rückkehr zur Militärdiktatur

Er, das ist Jair Bolsonaro. Der 63-Jährige sitzt seit 1991 im brasilianischen Parlament und war bis letztes Jahr weitgehend unbekannt. In seinen 18 Jahren als Abgeordneter war Bolsonaro die meiste Zeit ein Hinterbänkler. Nun zieht er als Kandidat der rechtskonservativen Sozial-Liberalen Partei, der er seit Januar 2018 angehört – vorher war er in der Sozial-Christlichen Partei (PSC) –,  in den brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf. Doch zeigt er auch dort kein großes Interesse an politischer Detailarbeit. Ein Wahlprogramm in eigentlichen Sinne hat Bolsonaro nicht, was er fordert, lässt sich zusammenfassen mit dem Wunsch, zur Militärdiktatur zurückzukehren.

Aufmerksamkeit erregte er durch das Sagen von Unsagbarem. Ein paar Beispiele:

  • Bolsonaro sagte, lieber solle sein Sohn sterben, als dass er homosexuell werde.
  • Einer Abgeordneten drohte er Schläge an, einer anderen teilte er vor laufender Kamera mit, er würde sie nicht vergewaltigen, sie sei zu hässlich.
  • Er sagte vor dem damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, die Militärdiktatur in Brasilien hätte mindestens 30.000 Ermordete mehr vertragen können, darunter auch ihn, den Präsidenten.

Sätze, die früher als schäumender Unsinn ignoriert worden wären. Doch am 7. Oktober 2018 hat Bolsonaro im ersten Wahlgang trotz oder gerade wegen solcher Sätze mit 46 Prozent der Stimmen fast die absolute Mehrheit errungen. Er hat gute Chancen, die Stichwahl am 28. Oktober für sich zu gewinnen.

Wie in vielen anderen Ländern, in denen es heute einen starken Rechtspopulismus gibt, schien es auch in Brasilien lange so, als könne er in diesem Land nicht Fuß fassen. Vor zehn Jahren sah es noch aus, als würde sich Brasilien, wie von dem österreichischen Autor Stefan Zweig einst prognostiziert, bald als das Land der Zukunft erweisen. Die Wirtschaft lief, der staatliche Ölkonzern entdeckte vor der Küste ungenutzte Ölreserven, die das Land über Jahrzehnte finanzieren könnten. Der damalige Präsident Lula da Silva holte mit einem „Familienstipendium“ Millionen Menschen aus der Armut, und er beendete das Hungerleiden im ländlichen Nordosten.

In Brasilien breitet sich ein Schnauze-voll-Gefühl aus, das sich auf zwei Weisen Luft macht …

Doch brachte er diese Programme mit Mitteln durchs Parlament, die ihm später zum Verhängnis werden sollten. Dazu gehörte auch der so betitelte „Mensalão“, ein monatliches Schmiergeldgehalt, das Abgeordnete erhielten, wenn sie für die Gesetzesvorschläge der Regierung votierten. Nach acht Jahren durfte Lula nicht noch einmal antreten.

In den 2010er-Jahren kam die Wirtschaftskrise mit etwas Verspätung auch in Brasilien an, und Korruptionsskandale, in die Politiker, Baufirmen und Ölkonzerne verwickelt waren, brachten Hunderttausende Demonstranten auf die Straße. Dilma Roussef, seit 2011 Präsidentin von Brasilien, wurde 2016 des Amtes enthoben. Ob Amtsenthebungsversuch oder Putsch: Je nach politischer Färbung bevorzugt jeder Brasilianer eine dieser beiden Versionen. Resultat war: Mit Michel Temer übernahm ein Interimspräsident, unter dessen Führung das Land weiter abbaute, Menschen in die Armut zurückfielen und der Arbeitnehmerschutz abgebaut wurde. Der Real, die brasilianische Währung, verlor von 2011 bis heute im Verhältnis zum Euro etwa die Hälfte seines Wertes.

… die einen wollen das alte System zurück – die anderen einen neuen, starken Führer

In Brasilien breitete sich ein Schnauze-voll-Gefühl aus, das sich auf zwei Weisen Luft machte. Die einen sagten: Lula da Silva muss zurückkommen und das richten. Die anderen: Wir brauchen einen, der mit alldem aufräumt und alles neu macht. Jair Bolsonaro wurde plötzlich, ohne großes eigenes Zutun, als ein solcher Erneuerer gesehen.

 

In den Umfragen lag nur einer verlässlich vor ihm: Lula da Silva. Doch dann wurde dieser wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt. Ein Prozess, den seine Unterstützer als politisch motiviert betrachten – auch hier weiß jeder Brasilianer je nach politischer Überzeugung zu sagen, ob Lula ein Verbrecher oder ein politischer Gefangener ist.

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Jair Bolsonaro (Foto: Silvia Izquierdo / picture alliance / AP Photo)

Die Vertrauenswürdigkeit ins Gesicht beschrieben: Bolsonaro äußert sich gegenüber den Medien

(Foto: Silvia Izquierdo / picture alliance / AP Photo)

Das Erstarken von Bolsonaro hat indessen viele demokratische Kräfte geweckt und politisch Uninteressierte politisiert – vor allem zwei Gruppen: LGBT und Frauen. Auch weil Bolsonaro sich diese beiden Gruppen mit seinen Aussagen zu seinen Hauptfeinden gemacht hat.

Der Protest gegen Bolsonaro – in den Augen der Unterstützer eine Kampagne für Demokratie und gegen Faschismus – begann auf Twitter mit #elenao. Auf Facebook gründeten sich Hunderte Lokalgruppen mit dem Namen „Vereinte Frauen gegen Bolsonaro“, heute haben sie teilweise über 100.000 Mitglieder. Instagram war voller Bilder von selbst gedruckten #elenao-Pins, -T-Shirts und -Bannern.

Nahezu jeder brasilianische Popstar teilte das Hashtag. Ein Aufruf der „Vereinten Frauen“ zu einer gemeinsamen #elenao-Demo resultierte im größten Protest gegen einen Präsidentschaftskandidaten in der Geschichte Brasiliens. Der Protest wurde von linken politischen Kräften organisiert, hatte aber auch Unterstützer aus neoliberalen und konservativen politischen Kreisen. In 114 Städten fanden sich über eine Million Menschen zusammen, darunter in New York, London, Lissabon und Paris. Mehrere Wissenschaftlerinnen in Brasilien nannten #elenao den „größten Frauenprotest in der Geschichte Brasiliens“.

Von Bolsonaro-Anhängern wurde der Protest als „linke Demo“ bezeichnet. Der neue Bruch, der durch die brasilianische Gesellschaft geht, verläuft entlang von politischen Grenzen, aber noch stärker: entlang von geschlechtlichen. Während Bolsonaro überdurchschnittlich beliebt bei jungen, weißen, religiösen, heterosexuellen und gebildeten Männern ist, sind es in der Mehrheit Frauen, die sich gegen ihn stellen – unterstützt von Homosexuellen, Nichtreligiösen und sozial Benachteiligten. Der größte Unterschied in absoluten Zahlen liegt bei den Wählerstimmen zwischen Männern und Frauen.

Der Wahlslogan des Gegenkandidaten: „Haddad é Lula“ – Haddad ist Lula

Jenen, die gegen Bolsonaro noch lagerübergreifend auf die Straße gingen, bleibt nun im zweiten Wahlgang nur der Kandidat Fernando Haddad, der mit 29 Prozent der Stimmen Zweiter wurde. Haddad, ein Universitätsprofessor und Ex-Bürgermeister aus Lula da Silvas Arbeiterpartei (PT), steht für die Weiterführung von Lulas Politik. Sein Wahlslogan: „Haddad é Lula“ – Haddad ist Lula. 

Die meisten Menschen, die Lula gewählt hätten, werden wohl zu Haddad wechseln, und andere Wähler aus dem linken Spektrum dürften ihnen dabei folgen. Doch trotz der abstoßenden Aussagen von Bolsonaro über Frauen, Schwarze, Indios, Schwule, Linke, Venezolaner und Dutzende andere Gruppen ist Haddads Arbeiterpartei für viele Brasilianer unwählbar geworden. Der Grund: ihre Verbindung zu all den – realen und überzeichneten – Korruptionsskandalen von Lula da Silva und Dilma Roussef.

Selbst linke und liberale Kandidaten, die im ersten Wahlgang ausgeschieden sind, werben nur zurückhaltend für Haddad. Die Prognosen für den zweiten Wahlgang sehen Bolsonaro leicht vorn, innerhalb des Fehlerkorridors von zwei Prozent. Nun kommt es nicht mehr nur darauf an, ob die Linken Haddad wählen, sondern auch darauf, ob die Rechten und Moderaten den Mann wählen, der als faschistischer Erneuerer gilt, oder den, der für ein korruptes System steht.

Titelbild: Ariel Subira/Archivolatino/laif

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