Es ist die Fantasie eines jungen Mädchens: Sonita Alizadeh klebt ihr Passbild auf ein Foto von Rihanna, die auf einer Bühne steht und singt . Die 15-Jährige will ein Star werden und vor vielen Menschen auftreten. Allerdings könnte ihre Ausgangsposition nicht ungünstiger sein: Die Afghanin lebt zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Nichte als Taliban-Flüchtling in der iranischen Hauptstadt Teheran. Lesen und Schreiben hat sie sich anfangs selbst beigebracht , ihr Geld verdient sie mit Putzen. In dem Fitnessstudio, in dem sie die Böden schrubbt, läuft oft HipHop. Eminem etwa. Was er rappt, versteht sie nicht, aber sie spürt die Kraft der Reime. Selbst Musik machen darf sie hier nicht ohne behördliche Genehmigung – denn als Frau müsste sie mit Repressalien rechnen. Außerdem fehlt ihr das Geld, um professionell auch nur einen Song aufzunehmen.
All das zeigt „Sonita“, die Dokumentation der iranischen Filmemacherin Rokhsareh Ghaem Maghami aus dem Jahr 2015. Irgendwann kommt Sonitas Mutter aus Afghanistan. Scheinbar, um ihre Tochter zu besuchen, in Wahrheit aber will sie Sonita nach Hause holen, um sie als Braut an einen vermögenden Mann zu verkaufen – für 9000 US-Dollar. Mit diesem Geld wiederum soll sich einer von Sonitas Brüdern eine Frau leisten können.
„I'm 15 years old, I'm from Herat / some guys proposed me, I'm confused and shocked" (Sonita, Brides for Sale)
Das ist der Moment, in dem die Regisseurin zur Handelnden in ihrem eigenen Film wird. Weil sie verhindern will, dass Sonita wieder in Afghanistan leben muss. Aber auch, weil ihr ihre Protagonistin abhanden zu kommen droht: ohne Sonita kein Film. Ghaem Maghami entscheidet sich, der Mutter 2000 US-Dollar zu geben und so Sonita (und damit auch sich selbst) sechs Monate Zeit zu erkaufen. „Ich kann nicht Menschen filmen, die unter etwas leiden, das ich ändern kann – sie geben mir ihr Leben, ihre Geschichte”, wird Ghaem Maghami später der britischen Tageszeitung The Guardian berichten. Die beiden drehen ein Video zu Sonitas Song „Brides for Sale“, in dem sie auf Farsi in Brautkleid, mit blauem Auge und Barcode auf der Stirn gegen die Tradition in ihrem Heimatland anrappt.
Der Rest ist eines dieser modernen Internet-Märchen: Das Video wird ein viraler Hit, Sonita gewinnt einen Musikwettbewerb, erste internationale Artikel erscheinen. Die amerikanische „Strongheart Group“ wird auf sie aufmerksam: eine gemeinnützige Organisation, die sich für soziale Gerechtigkeit für jene einsetzt, denen anders keine zuteil kommt. Eine Highschool in den USA bietet Sonita schließlich ein Stipendium an.
„Mir kommt das alles vor wie ein Wunder“, sagt sie. Doch für das Wunder braucht sie ihre Geburtsurkunde, einen Pass und ein Visum. Und das bedeutet, dass sie zurück nach Afghanistan muss, in ein Land, das in weiten Teilen als gefährlich gilt. Scheitert sie an der Beschaffung der Unterlagen, darf sie weder in die USA noch zurück in den Iran. Ihrer Familie erzählt sie nichts von ihren Plänen, aus Angst, sie könnten sie davon abhalten.
Was wurde aus Sonita? Ein Anruf in Utah. Es ist 8 Uhr morgens Ortszeit in Mount Pleasant, einer Kleinstadt im Westen der Vereinigten Staaten. Seit 2015 geht Sonita hier zur Highschool und lebt im dazugehörigen Internat, lernt Englisch, bekommt Musikunterricht und bereitet sich aufs College vor. „Ich gehe hier zum ersten Mal in meinem Leben in eine Schule“, erzählt sie.
“I'm confused and shocked because of these people and the Marriage tradition / they sell girls without any right to choose“ (Sonita, Brides for Sale)
In das von Mormonen geprägte Utah hat es sie verschlagen, das nicht eben als der liberalste US-Bundesstaat gilt. Politische Fragen, beispielsweise, ob und inwiefern sie sich als Muslima in Trumps Amerika Anfeindungen ausgesetzt sieht, würde Sonita nicht beantworten, das hatten die Mitarbeiter der „Strongheart Group“ vor dem Interview klargemacht – um Sonitas Familie in Afghanistan zu schützen, so die Begründung. Auf die Frage, wie sie in Utah empfangen wurde, erwidert Sonita: „Ich habe mich hier sehr willkommen gefühlt. Das ist der Ort, an dem ich derzeit am liebsten leben möchte.“
„Sonita“, der Film, der sie nach Amerika gebracht hat, gewann den Publikums- und den Preis der Grand Jury auf dem Sundance Film Festival 2016 . Sonita trat vor hochrangigen Politikern wie John Kerry und Joe Biden auf , Chelsea Clinton interviewte sie in einer Panel-Diskussion. Der britische Fernsehsender BBC setzte sie auf ihre Liste der „100 Frauen 2015“.
„Bevor ich hierher kam, dachte ich, Zwangs- und Kinderehen seien etwas, das nur in Ländern wie Afghanistan oder dem Iran vorkommt“ , erzählt Sonita. „Aber es gibt sie überall, auch hier in den Vereinigten Staaten.“ Schätzungsweise 15 Millionen sind es jährlich weltweit .
Auch wenn es inzwischen etwas ruhiger um sie geworden ist: Ihren Kampf für die Rechte von Millionen von Mädchen setzt Sonita als Aktivistin neben der Schule fort. „Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass sich die Situation für Frauen auf der ganzen Welt verbessert.“ Als Nächstes möchte sie studieren – wo, das ist noch unklar. „Ich weiß natürlich nicht, wo ich heute ohne den Film, das Video und das Stipendium wäre“, sagt sie. „Aber ich glaube, dass meine Entschlossenheit und mein Wille, etwas an meiner Situation zu verändern, mir die Kraft gegeben haben, einen Weg zu finden.“ Die Beziehung zu ihrer Familie habe sich verbessert, seit sie weggegangen ist. „Jetzt, da ich mache, was mir wichtig ist, verstehen sie mich besser. Meine Mutter ist mein größter Fan.“
Irgendwann, so hofft Sonita Alizadeh, wird sie nach Hause zurückkehren können. „Afghanistan ist meine Heimat und Teil meiner Identität. Ich vermisse es – egal, wo ich bin.“ Ende Juli veröffentlichte sie mit „United“ ein neues Stück auf Youtube: Sie rappt hier über eine Zukunft in ihrer Heimat, in der alle Afghanen friedlich und vereint zusammenleben. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer ihrer Wünsche in Erfüllung ginge.
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