Esat Özkan kann sich noch gut an die Zeit erinnern, als er mit seinen Eltern nach Deutschland kam."Ich war erstaunt,dass die Straßen hier so neu und sauber aussehen.Aber nach drei Monaten wollte ich zurück in die Türkei zu meinen Freunden",sagt der blasse 16-Jährige. Er trägt Schlabberjeans und Chucks und sitzt auf einer Bank im Flur seiner Schule. Neun Jahre ist es her,dass er nach Kassel gezogen ist.Damals sprach er kein Wort Deutsch.Wenn ihn ein Schüler deswegen aufzog,hat er "Lütfen beni rahat birak" gesagt, "Bitte lass mich in Ruhe".Wenn das nicht half, schlug er zu.
Esat sieht ins Leere.In der Grundschule ist er zweimal sitzen geblieben, in der fünften Klasse war er einen Kopf größer als die anderen und hat dort weitergeprügelt."Ich fand das nicht so toll", sagt Saleem Mida, der sich neben Esat setzt."Pass auf,was du sagst",meint Esat und holt mit dem rechten Arm aus. Doch er schlägt nicht zu, sondern knufft Saleem in die Seite.Esat verprügelt heute niemanden mehr.Außerdem ist Saleem sein bester Freund.
Saleem und Esat gehen in die neunte Klasse der Offenen Schule Waldau. Die Gesamtschule liegt in einem Problemviertel Kassels. In den Sechzigerjahren wurden in Waldau Plattenbauten hochgezogen. Heute sind 40 Prozent der Bewohner Ausländer oder Aussiedler.42 Prozent bekommen Arbeitslosengeld I oder II. Rund 20 Prozent der Schüler sprechen in der Familie kein Deutsch. Die PISA-Studien haben gezeigt, was das für Heranwachsende heißt:In kaum einem Testland ist die familiäre Herkunft für den Schulerfolg so entscheidend wie in Deutschland. "Esat hat es uns nicht immer leicht gemacht",sagt Bärbel Buchfeld, eine energische Alt-68erin, die die Schule seit sechs Jahren leitet.
Es ist später Nachmittag, die Schüler sind längst zu Hause. Um sieben Uhr tritt die Schulkonferenz zusammen,bei der Lehrer,Eltern und Schüler neue Projekte wie die Kletterwand besprechen, die die Schule mithilfe von Spenden gerade errichtet hat. Durch die Fenster in Buchfelds Büro sieht man die Wohntürme der Trabantenstadt.Seit Mitte der Achtziger hat sich ein dünner Streifen aus Einfamilienhäusern zwischen die Schule und die Hochhäuser gelegt. Er wirkt wie ein Symbol für die dünne Schicht aus Regeln und Ordnung,mit der sich die Offene Schule vor der Gewalt des Viertels schützt.
"Natürlich braucht ein Schüler wie Esat mehr Aufmerksamkeit als andere",sagt die 59-Jährige."Wenn er in einem Fach einbricht, gehen wir hinterher, reden mit seinen Eltern, sorgen dafür, dass er wieder lernt." In einigen Fächern ist Esat durchaus begabt. Früher hat er Einser in Mathe geschrieben, er ist ein guter Sportler, aber sein schlechtes Deutsch macht ihm zu schaffen.Gerade bereitet er sich auf den Hauptschulabschluss nach der neunten Klasse vor. Er geht zum Deutsch-Förderunterricht,zu Hause lernt er die deutschen Artikel.Vielleicht schafft er sogar den Realschulabschluss.
Buchfeld ist überzeugt, dass sich die Mühe lohnt. Die Erfolge der Offenen Schule sprechen dafür: 60 bis 70 Prozent ihrer Schüler wechseln auf eine weiterführende Schule wie das Gymnasium. 30 Prozent schaffen den Haupt- oder Realschulabschluss. "Selbst Schülern,die nach der neunten Klasse abgehen", sagt Buchfeld, "besorgen wir eine Lehrstelle.In den ganzen Jahren habe ich nur zwei Schüler völlig aus den Augen verloren. In denen steckte jedoch so viel kriminelle Energie – das konnten wir nicht auffangen."
"Wir sind eine Schule für alle" heißt es in Schule machen, dem Programm der Offenen Schule.1971 wurde die Gesamtschule Waldau gegründet, zwölf Jahre später in "Offene Schule Waldau" umbenannt.Waldau wurde zur integrierten Gesamtschule,die auch Behinderte aufnimmt.Sie führte längere Pausen und Nachmittagsunterricht ein, im umgebauten Hauptgebäude, einem Fertigbau-Klotz aus Beton,bekam jeder Jahrgang seine eigene Etage, die fünften und sechsten Klassen zogen sogar in eigene Gebäude. "Jeder Jahrgang hat einen eigenen Bereich", sagt Buchfeld."So verhindern wir auch,dass sich Türken oder Russlanddeutsche zusammenschließen und aufeinander losgehen."
Beharrlich setzen Schulleitung und Lehrer neue pädagogische Ideen um, was allen viel Zeit und Einsatz abverlangt. Nachmittags können die Schüler zwischen Zusatzangeboten wie Badminton, Hip-Hop oder Training für die Jugendfeuerwehr wählen.Zu Beginn der fünften Klasse besuchen die Lehrer alle Eltern und verpflichten sie,einen "Lernvertrag" zu unterschreiben, der die Rechte und Pflichten der Lehrer, Eltern und Schüler regelt.Am wichtigsten aber ist Buchfeld,dass die Lehrer in Teams arbeiten,die jeden Jahrgang von der fünften bis zur zehnten Klasse begleiten.
Heute ist die Offene Schule Waldau eine von vier besonders geförderten Versuchsschulen in Hessen und einer der Preisträger des Deutschen Schulpreises, der im Dezember 2006 erstmals vergeben wurde. 2005 haben rund sechzig Lehrergruppen hier hospitiert. "Die sind vor allem überrascht", sagt Buchfeld, "wie ruhig und freundlich unsere Schüler sind." 145 nimmt die Offene Schule jedes Jahr auf.Genauso viele musste sie letzten Sommer ablehnen. Kinder wie Esat, die vorher auf die Grundschule Waldau gegangen sind,werden bevorzugt aufgenommen.Aber auch Eltern aus den besseren Stadtteilen schicken ihre Kinder mittlerweile auf die Offene Schule. Saleem wohnt im bürgerlichen Wehlheiden und fährt jeden Morgen eine halbe Stunde mit dem Bus. Seine Eltern sind Inder und vor 16 Jahren nach Deutschland gekommen.Sie konnten kein Deutsch, hatten nicht studiert, aber sie wollten es zu etwas bringen,sich hier einleben und haben die Sprache schnell gelernt.
Heute besitzen Saleems Eltern eine Pizzeria, seine Mutter macht die Buchhaltung.Ab und an hilft sie in Englisch aus, bei Saleems Bruder Nadeem, der in die siebte Klasse geht, sitzt sie im Elternbeirat. Saleem wäre lieber auf ein Gymnasium gegangen, weil er gern gefordert wird, wie er sagt. Seine Eltern haben ihn aber nach Waldau geschickt. Heute geht er gern hierher – "weil man auch Haupt- und Realschüler kennenlernt" –, ist Zweitbester seiner Klasse und ihr Sprecher. Später will er Maschinenbau studieren. "Saleem, kommst du an die Tafel und zeigst uns, was du gerechnet hast?", fragt die Mathematiklehrerin. Saleem geht an die Tafel und nimmt sich die Kreide.Auf seinem Rücken prangt ein Armani-Logo. Ohne den in anderen Schulen üblichen Gong geht die Stunde zu Ende.
In der Pause treffen sich Esat und Saleem auf dem Gang. Seit der sechsten Klasse saßen sie im Unterricht nebeneinander. Im freien Lernen, wo die Schüler Projekte erarbeiten, haben sie immer zusammengearbeitet. "Ich habe ihm ein wenig geholfen, weil ich besser Deutsch kann", sagt Saleem. Ihre Wege werden sich trennen. In Fächern wie Mathematik oder Englisch besuchen Gymnasialanwärter wie Saleem den Erweiterungskurs,Esat geht in den Grundkurs.Sein Vater spricht gerade genug Deutsch,um sich in seinem Job als Autolackierer zu verständigen, seine Mutter beherrscht die Sprache überhaupt nicht.Auch seine Familie ist nach Deutschland gekommen, um sich hier etwas aufzubauen. Esat will zurück in die Türkei. Vorher möchte er eine Ausbildung zum Autolackierer machen – wie sein Vater."
Aber erst müssen wir dafür sorgen, dass du den Realschulabschluss schaffst",sagt Saleem.Esat drückt die Lippen zusammen. Nach Schulschluss gehen die beiden durch Waldau zum Bus. Esat ist in der Nähe groß geworden,ehe seine Familie in einen ruhigeren,schöneren Stadtteil gezogen ist.Am Wochenende trifft er hier seine Freunde. Er beginnt zu schwadronieren: von Banden, von Schlägereien zwischen Aussiedlern und Türken.Er gibt ein bisschen an mit seinen Ghettoerfahrungen. Dann wird ihm bewusst, was er erzählt."Ich bin nie in einer Bande gewesen",sagt er.Und,nach einer Pause:"Gewalt ist keine Lösung." Es klingt noch ein wenig auswendig gelernt.Aber er meint es ernst.