In dem Moment, in dem seine Leidenschaft in eine fieberhafte Obsession kippt, die ihn letztlich Kopf und Kragen kosten wird, fragt sich Seth: „Wann habe ich den Bezug zur Zukunft verloren?“
Seth ist schüchtern und schmalbrüstig, Phänotyp eierköpfiger Technikexperte. Ganz anders sein Freund Carter. Der kommt aus reichem Hause, datet Models, hat die besten Drogen und die beste Plattensammlung. Was die beiden so ungleichen weißen Jungs zusammenschweißt, ist ihre Begeisterung für schwarze Musik.
Die Satire auf das schnöselige Auskennertum zweier Hipster gleitet bald ins Unheimliche ab
Am College hören sie noch Detroit Techno und House, Hip-Hop, Dub-Reggae und Jazz. Bald aber verabschieden sie sich aus der Welt der normalnerdigen Musikexperten. Sie graben sich immer tiefer hinein in die Musikgeschichte, getrieben von einer Sehnsucht nach Intensität und Echtheit, die der digitalen Gegenwart irgendwie abhandengekommen zu sein scheint – und machen daraus ein florierendes Geschäft. Bald eröffnen sie ein Tonstudio in New York und schneidern Bands einen passgenauen Retro-Sound wie einst Mark Ronson für Amy Winehouse.
„White Tears“ von Hari Kunzru startet wie eine Satire auf das schnöselige Auskennertum zweier Hipster, gleitet aber bald ins Unheimliche ab und öffnet dabei manche gesellschaftliche Dunkelkammer. Carter beginnt ultraseltene Blues-Aufnahmen aus den 1920er-Jahren zu sammeln. Seth durchstreift die Stadt derweil mit seinem Mikrofon, um interessante Geräusche aufzunehmen. Eines Tages entdeckt er auf einer Audiodatei eine Melodie. Im Studio befreien sie die Aufnahme von den Umgebungsgeräuschen. Das Blues-Stück stellen sie ins Netz und behaupten, es stamme von einer alten Schellackplatte eines Sängers namens Charlie Shaw. Den gibt’s natürlich gar nicht. Oder doch? Wenige Tage nach ihrem Fake wird Carter ins Koma geprügelt.
Viel gegenwärtiger als „White Tears“ kann ein Roman kaum sein. Er verknotet ziemlich geschickt Rassismus und Klassenfragen mit der Vergangenheitssehnsucht der Digital Natives. Vor allem aber erzählt der Roman des in New York lebenden Anglo-Inders die Geschichte einer kulturellen Aneignung. Die Debatte darum wird gerade ausgesprochen lebhaft geführt. Da wird jede Rastalocke die an einem weißen Haupt sprießt, als übergriffige Enteignung angeprangert, so als wäre eine respektvolle Verneigung vor einer anderen Kultur gar nicht erst möglich. Und Solidarität auch nicht.
Mit dem Blues ist es da schon schwieriger, wie „White Tears“ erzählt. Wie keine andere Musik ist er vom langen Leid der Afroamerikaner in den USA durchdrungen. Knapper als der antikoloniale Theoretiker Frantz Fanon kann man es nicht zusammenfassen: „Ohne Unterdrückung und Rassismus kein Blues.“
Ohne Blues aber auch kein Rock ’n’ Roll. Kein Elvis, keine Rolling Stones, keine milliardenschwere Popindustrie. Was das heißt, wenn weiße Musiker das Erbe der bitterarmen und rassistisch diskriminierten Blues-Musiker fortschreiben und vermarkten, hat US-Kulturwissenschaftler Greg Tate in dem Essayband „Everything but the Burden“ beschrieben. Sein Schluss: Die US-Popkultur – von Musik über Mode, Tanz, Slang, Humor oder auch Sport – ist durchdrungen von schwarzer Kreativität. Die Weißen nehmen die nur zu gerne auf – und zwar alles, bis auf die Bürde, die auch heute noch mit dem Schwarzsein verbunden ist.
Auf dem Roadtrip bekommt die Realität immer mehr Kratzer
Wo hört die Annerkennung auf? Wo fängt die Ausbeutung an? Wie geht man mit dem Erbe des Rassismus um? Und wie mit den Machtstrukturen der Gegenwart? In dem Moment, wo sich „White Tears“ von der Retromania-Persiflage auf den allgemeinen Profilierungszwang der Hipster und die besonderen Stilneigungen der Generation Y löst, tauchen die Geister der Vergangenheit auf. Die Handlung verblendet sich zu einer Southern Gothic Novel. Während Carter nicht mehr aus dem Koma erwacht, wird Seth von Carters reicher Familie aus der Wohnung und aus dem Studio geschmissen. Seine Existenz liegt in Trümmern. Auf der Suche nach dem Geheimnis von Charlie Shaw reist er in den Süden.
Auf seinem Roadtrip bekommt seine Realität immer mehr Kratzer und verschwimmt zusehends. Vergangenheit und Gegenwart lassen sich nicht mehr trennen, sie überlappen sich. Auch die Handlungsorte verschmelzen. Wer war Charlie Shaw, den sie doch eigentlich nur erfunden hatten? Was wurde aus ihm? Lebt er sogar noch? Und hat er was mit Carter zu tun? Die Geister der Vergangenheit kommen nicht ohne Grund. Natürlich nicht. Sie fordern einen Tribut für ein längst vergangenes Unrecht, das noch nicht beglichen wurde. Nur verdrängt. Aber bevor Seth das merkt, ist es für ihn und Carter schon längst zu spät.
Titelbild: Henning Bode/laif