Fluter.de: Dein Roman spielt im Kinderheim, auf der Straße, im kriminellen Milieu, konkret: der Zwangsprostitutions-Szene, wenn man das so nennen will. Wie hast du recherchiert?
Lana Lux: Das waren zwei sehr unterschiedliche Recherchen. Der Ukraine-Teil erforderte genau genommen überhaupt keine Recherche. Alles, was darin vorkommt, weiß ich noch aus meiner eigenen Kindheit. Diese Szenen habe ich gesehen, gehört, die waren jeden Tag in der Zeitung. Diese bettelnden, klauenden Straßenkinder waren eine Realität. Das waren die Kinder, denen ich mich nicht nähern sollte. Der Teil, in dem es um die Wege der Zwangsprostituierten geht – wie sie an Pässe kommen, wie die Überführung vonstattengeht, die Strukturen, in denen das Geschäft läuft –, das habe ich in Berichten von befreiten Frauen gelesen, in Reportagen.
War das Thema auch der Ausgangspunkt des Buches?
Es war nicht so, dass ich dachte: Zwangsprostitution ist ein großes Problem, ich möchte darüber schreiben. Die Figur kam zu mir, und das ist ihre Geschichte. Erst daher habe ich angefangen, mich in das Thema einzuarbeiten. Dann tat sich diese Welt vor mir auf, in der Deutschland ein Land des Sextourismus ist.
Wie du stammt deine Protagonistin aus der Ukraine und kommt irgendwann nach Deutschland. Wie viel von dir steckt in Kukolka?
Alles und nichts. Ihre Geschichte ist nicht meine, aber ich war drei Jahre mit ihr verbunden. Diese Figur ist für mich so real wie ein echter Mensch.
Ist es dir je in den Sinn gekommen, über Deine eigene Immigration zu schreiben?
Ich kann mir nicht vorstellen, über mich selbst zu schreiben. Das kenne ich, das interessiert mich einfach nicht.
Aus was für einem Elternhaus stammst du?
Auf meinem Gymnasium in Dnipropetrowsk war ich das einzige Kind, das nicht aus einem Elite-Haushalt stammte. Meine Eltern gehörten nach dem Zerfall der Sowjetunion zu den Verlierern. Meine Mutter war zu Sowjetzeiten Ingenieurin, mein Vater arbeitete als Fotograf in einer Möbelfirma. Als immer mehr Betriebe privatisiert wurden oder sich langsam auflösten, bezahlte man die Arbeiter mit Urlaubstagen oder den Produkten, die sie herstellten. Das Erste, was meine Mutter von der Schulleitung gefragt wurde, war, welche Art von Sponsoring sie der Schule zukommen lassen könnte. Ihre Antwort war: Nichts. Wir mussten nie hungern, aber wir waren arm. Wir hatten oft keinen Strom, dann wieder keine Heizung, ein anderes Mal kein warmes Wasser. Meine Hausaufgaben habe ich bei Kerzenschein gemacht.
Wie gingen deine Eltern um mit dem Verlust ihres Status und ja auch ihrer Existenz um?
Sie erzählen oft davon, wie schön es zu Sowjetzeiten gewesen war. Sie verklären da viel. Andererseits: Während ich es schön oder abenteuerlich fand, wenn wir bei Kerzenschein beim Essen zusammensaßen, empfanden meine Eltern die Situation als furchtbar.
Wie seid ihr in Deutschland gelandet?
Als Juden wollten wir selbstverständlich nach Israel – nach Hause. Wir haben alles verscherbelt, die wichtigsten Dinge verschifft, und mein Vater ist zunächst allein vorgefahren. Kurz vor unserer Abreise rief mein Vater an und sagte: Kommt nicht! Was er sah, gefiel ihm nicht: das Orientalische, die jungen Mädchen mit den Waffen, aber auch die Tatsache, dass er in Israel Russe war und nicht in erster Linie Jude. Wir entschieden dann, dass wir als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gehen würden. Und so landeten wir 1996 in einem Flüchtlingslager im nordrhein-westfälischen Unna.
Warst du seitdem noch mal in der Ukraine?
In den ersten Jahren waren wir noch regelmäßig da, das letzte Mal war ich 14 Jahre alt. Das war bislang auch okay, aber im Moment habe ich ein großes Bedürfnis danach zurückzufahren. Mein Gefühl für das Land wurde – so traurig das auch ist – tatsächlich vom Krieg geweckt. Es ist, als hätte ich erfahren, dass ein Verwandter tödlich krank ist. Ich habe eine Sehnsucht nach den Orten meiner Kindheit, was damit zu tun haben kann, dass ich jetzt eine Tochter habe. Mein Mann ist Berliner und hat an viele Orte in der Stadt Erinnerungen. Ich kenne das nicht.
Hast du noch Kontakt in die Ukraine?
Nein, ich habe mich irgendwann bewusst abgewendet. Ansonsten hätte es mich zerrissen. Es ist schwer genug, so viele Identitätssplitter in sich zu tragen. Ich musste diese Orte loslassen, andernfalls hätte ich nicht wachsen können. Mittlerweile bin ich auch bereit, meinen ukrainischen Pass abzugeben und die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Ohne zu viel vom Ende deines Buches verraten zu wollen: Weißt du, wo deine Protagonistin heute wäre?
Samira studiert Gesang, bekommt auch Engagements, aber sie funktioniert nicht im gutbürgerlichen Leben. Sie lernt einen Typen kennen, der misshandelt sie, im Krankenhaus stellt man fest, dass sie HIV-positiv und schwanger ist. Sie treibt das Kind ab und findet ihren Seelenfrieden erst in einem Kloster in Russland.
Titelbild: Ute Mahler/OSTKREUZ