José María Arizmendiarrieta wollte eigentlich Pfarrer werden, aber als 1936 der spanische Bürgerkrieg begann, musste der Baske sein Priesterseminar unterbrechen. Nicht schlimm, denn er interessierte sich auch für andere Sachen: Als General Franco seine Diktatur errichtet hatte, kam Arizmendiarrieta eine Idee, wie man die katastrophalen Folgen des Bürgerkriegs – darunter die Massenarbeitslosigkeit – lindern könnte: Er dachte an ein Unternehmen, dessen Gewinne nicht in die Taschen eines Unternehmers fließen, sondern vor allem dazu dienen, die Arbeitsplätze zu sichern und die Löhne stabil zu halten.
In der baskischen Kleinstadt Mondragón, wohin er 1941 als Assistenzpfarrer versetzt wurde, gründete Arizmendiarrieta die gleichnamige Kooperative Mondragón Corporación Cooperativa (MCC). Sie sollte den Arbeitern gehören und von ihnen demokratisch verwaltet werden. Bald entstand unter diesem Dachverband ein ganzes Netzwerk aus Firmen, darunter eine eigene Bank, eine Versicherung und eine Universität. Die Idee des verhinderten Pfarrers war erstaunlich langlebig: Das Netzwerk existiert bis heute – mit Erfolg. Zuletzt erwirtschaftete MCC einen Umsatz von rund 14 Milliarden Euro und beschäftigte 84.000 Menschen. Damit ist sie die größte Kooperative weltweit und die siebtgrößte Unternehmensgruppe Spaniens. Selbst während der Finanzkrise, die Spaniens Arbeitslosenquote von damals gut acht auf heute über 26 Prozent ansteigen ließ, wurde bei MCC so gut wie niemand entlassen.
In vielen Industrieländern ist die demokratische Grundordnung ein Eckpfeiler der Gesellschaft, gegen antidemokratische Bewegungen geht in Deutschland sogar der Verfassungsschutz vor. Nur die Wirtschaft ist oft eine demokratiefreie Zone: Firmenbosse wirken wie Despoten, kleine Zirkel von Managern bestimmen, was getan wird. Manche Unternehmen haben nicht mal Betriebsräte, über die die Angestellten eine gewisse Mitsprache haben.
Es gibt demokratisch organisierte Firmen – in Europa sogar etwa 60.000, wie der Innsbrucker Professor für Angewandte Psychologie, Wolfgang Weber, schätzt. Doch diese seien meist kleine oder mittelständische Betriebe. Aber meistens läuft es anders: Private Besitzer oder Großaktionäre berufen Manager an die Spitze ihrer Unternehmen. Diese kleine Gruppe entscheidet dann, was die weitaus größere Gruppe der Angestellten zu tun hat, welche Produkte wie und wo hergestellt werden. Natürlich auch, was mit dem Gewinn geschieht, der durch den Verkauf dieser Produkte erzielt wird. Die Mehrheit muss mit diesen Entscheidungen und deren Folgen leben. Der Soziologe Ulrich Beck hat daher den Ausdruck der „halbierten Demokratie“ geprägt. In unserer Industriegesellschaft bliebe die wissenschaftlich-technische Gesellschaftsveränderung der politisch-parlamentarischen Entscheidung entzogen.
Die Mehrheit der Manager und Berater ist mit diesem Modell zufrieden. Ein Unternehmen sei nun einmal nicht der Platz für hehre demokratische Ideale. Wenn Entscheidungen in Echtzeit getroffen werden müssten, könne man nicht erst darüber abstimmen. Außerdem müsse die Entscheidungsstruktur klar definiert sein. Einer müsse schließlich die Dinge durchsetzen, die Richtung bestimmen, die Verantwortung übernehmen. Und welcher Mitarbeiter würde schon effizient arbeiten, wenn es nicht einen Vorgesetzten gäbe, der ihn motiviert, aber auch kontrolliert.
Es gibt auch andere Ansichten: Schon in den 50er-Jahren stellten die US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Douglas McGregor, Frederick Herzberg und William Edwards Deming fest, dass strikte Hierarchien eher dazu führen, dass sich die Angestellten von ihrer Arbeit entfremden. So ähnlich hat es auch Karl Marx zu Zeiten beginnender Industrialisierung prophezeit. Für eine dauerhafte Motivation der Belegschaft wären „intrinsische“ – also dem Menschen innewohnende – Bedürfnisse zu berücksichtigen, vor allem das nach Selbstverwirklichung. Verhaltenspsychologen an der Universität Harvard entwickelten daraus Mitte der 80er-Jahre ihre „Theorie der Selbstbestimmung“: Wem nicht ständig hineingeredet wird, der geht lieber zur Arbeit – und macht einen besseren Job.
Manchmal kann zu viel Eigenverantwortung auch dazu führen, dass sich die Menschen übernehmen
Diese Erkenntnis ist heute populärer denn je, schließlich drängt mit den nach 1980 Geborenen eine Generation auf den Arbeitsmarkt, die Flexibilität gewohnt ist und mit autoritären Strukturen nicht viel anfangen kann. Und weil in vielen Bereichen ein Mangel an Fachkräften herrscht, müssen die Unternehmen diese Ansichten ernst nehmen. Große US-Firmen wie der Tomatenverarbeiter Morning Star und der Textilhersteller W. L. Gore sowie der brasilianische Mischkonzern Semco funktionieren seit Jahrzehnten fast hierarchiefrei. Giganten wie Google, General Electric und die Bio-Supermarktkette Whole Foods sind auf dem Weg dorthin.
Allerdings kann die erweiterte Mitbestimmung auch zu Problemen führen. Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild hat in einer Langzeitstudie festgestellt, dass Menschen, die sich im Job zu viel Eigenverantwortung aufbürden, kaum noch Zeit für sich selbst und ihre Familie fänden. Das führe über kurz oder lang zu tiefen persönlichen Krisen. Der Psychologe Wolfgang Weber sagt: „Gerade bei der Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Familie muss es Regelungen geben.“ Weber weist auf eine weitere Schwierigkeit hin. Wenn es ans Eingemachte gehe, nämlich an die Firmenstrategie und nicht zuletzt die Besitzverhältnisse, sei es mit der Demokratie in einem Teil der ansonsten demokratisch organisierten Unternehmen sofort vorbei. „Da stoßen die Mitarbeiter dann an eine gläserne Decke. Das ist für viele frustrierend.“
Auch bei Genossenschaften läuft nicht immer alles in vollkommener Harmonie ab. Sie sind zwar in der Regel demokratischer als normale Firmen, aber nicht unbedingt sozialer. Genossenschaftsbanken jagen dem schnellen Geld oft ebenso hinterher wie die Konkurrenz, hohe Zinsen gefallen ihren Mitgliedern schließlich auch. Wozu Gier in Genossenschaften führen kann, zeigt der Fall der gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugenossenschaft „Neue Heimat“. Der Vorstand von Europas größtem Wohnungsbaukonzern hatte jahrelang Millionen in die eigene Tasche gewirtschaftet, 1982 brach das ganze Gebilde zusammen.
Bei Mondragón versucht man solchen Gefahren vorzubeugen, mit einer Mischung aus Laissez-faire und Kontrolle. Es wird nicht über jedes Detail abgestimmt. Das würde einen effizienten Arbeitsablauf unmöglich machen. Stattdessen laufen die Entscheidungsprozesse wie in einem repräsentativen Parlament ab. Das oberste Organ der einzelnen Genossenschaftsfirmen bildet die jeweilige Generalversammlung der Mitglieder. Von ihr wird der Vorstand gewählt, der zwar über die Besetzung der leitenden Positionen im Unternehmen entscheidet, sich aber an die Vorgaben der Generalversammlung halten muss. Ein Sozialrat wacht darüber, dass sich die einzelnen Genossen nicht übernehmen. Auf der Ebene der Dachorganisation MCC wird diese Struktur kopiert: 650 Vertreter der einzelnen Genossenschaften treffen sich einmal jährlich zur großen Generalversammlung. Die Delegierten beschließen dort gemeinsam die langfristigen Strategien der gesamten Gruppe.
Für Wolfgang Weber ist es kein Zufall, dass Mondragón mit diesem System die Finanzkrise vergleichsweise gut überstanden hat. „Es kommt eben nicht nur darauf an, schnelle Entscheidungen zu treffen. Die Entscheidungen müssen auch gut sein. Gerade in schweren Zeiten ist es töricht, auf die Weisheit der Vielen zu verzichten.“