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Auf der Suche nach dem verlorenen Autor

Mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ hat der senegalesische Autor Mohamed Mbougar Sarr eine Art postkolonialistischen Racheroman geschrieben – und den wichtigsten französischen Literaturpreis gewonnen

Mohamed Mbougar Sarr

Worum geht’s?

Mohamed Mbougar Sarr erzählt in „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von Diégane, einem jungen Mann, der wild entschlossen ist, Schriftsteller zu werden. Dafür ist er aus Senegal nach Paris gekommen. Hier schreibt er, hier philosophiert er mit seiner Clique aus Schwarzen Schriftsteller*innen. Und hier stößt ihn die weitaus ältere Schriftstellerin Siga D. auf die Spur eines gewissen T.C. Elimane, dem in Sarrs Romanwelt ersten Schwarzen Schriftsteller in Frankreich. Als Diégane dessen verschollen geglaubtes Buch „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ in die Hände bekommt, das 1938 einen Literaturskandal auslöste, begibt er sich auf die Suche nach dem legendenumwobenen Autor.

Worum geht’s wirklich?

Mohamed Mbougar Sarrs vierter Roman liest sich zwar teilweise wie eine selbstironische Schriftstellerbiografie. Genauso präsent ist aber die schmerzvolle und ambivalente Beziehung Senegals zum ehemaligen Kolonisator Frankreich. Elimanes verschollener Vater etwa gehörte zu den „Tirailleurs sénégalais“. Die sogenannten Senegalschützen gab es wirklich, sie kämpften im Ersten und Zweiten Weltkrieg teils freiwillig für Frankreich, um dort – vergeblich – Anerkennung zu finden. Auch im Literaturskandal um T.C. Elimanes erstes und einziges Buch zeigt sich im Roman der ganze Rassismus der französischen Gesellschaft: Wie könnte – so der offen geäußerte Vorwurf – ein Schwarzer es wagen, in den intellektuellen Olymp der Literatur aufsteigen zu wollen?

Gut zu wissen:

Die Figur Elimane hat ein reales Vorbild: Yambo Ouologuem. Dem Autor ist „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ auch gewidmet. Ouologuem, geboren 1940 im „Französisch-Sudan“, dem heutigen Mali, wurde 1968 in der französischen Literaturszene mit seinem Debütroman „Das Gebot der Gewalt“ bekannt und erhielt dafür den renommierten Prix Renaudot. Wegen Plagiatsvorwürfen, die der Autor bestritt, ließ ihn sein Verlagshaus fallen, Ouologuem zog sich aus der Literaturwelt zurück, und „Das Gebot der Gewalt“ erschien in Frankreich erst wieder 2003. Der 1990 geborene Sarr wiederum wurde 2021 für „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ mit dem höchsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet – als erster senegalesischer Autor und einer der jüngsten Preisträger überhaupt.

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Die geheimste Erinnerung der Menschen
Mohamed Mbougar Sarrs „Die geheimste Erinnerung der Menschen“, übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, (448 Seiten, 27 Euro) ist im Hanser Verlag erschienen

Wie ist es erzählt?

Mit einem Wort: virtuos. Sarrs Schreibstil öffnet sich an jeder Ecke seiner labyrinthischen Wege in fantastische Bilder, die sich langsam entfalten. Rasant wechselt außerdem die Perspektive zwischen den vielen erzählenden Personen hin und her: von Siga D. in Paris zu Diéganes Schriftstellerfreund Musimbwa in Zaire (der heutigen Demokratischen Republik Kongo) und zum alten Seher Ousseynou Khoumakh in Senegal. Ihre Erzählungen berichten einen Teil der Geschichte um Elimane, zugleich sind sie aber auch ganz eigene biografische Fiktionen, die weite Bögen zu anderen Ebenen und Zeiten des Romans spannen. Natürlich kann man den fiktiven Autor Elimane als ein Spiegelbild des Protagonisten Diégane lesen, der ein Spiegelbild des realen Autors Mohamed Mbougar Sarr darstellt – der damit wiederum an den argentinischen Autor Jorge Luis Borges erinnert. Borges’ Literatur ist bekannt für ineinander verschränkte Spiegelbilder, Labyrinthe und Bibliotheken. Und so scheinen alle Schriftsteller*innen in Sarrs Roman in Wahrheit auch nur ein einziges Buch zu schreiben, ob es nun „Labyrinth des Unmenschlichen“ (Elimane), „Elegie der Finsternis“ (Siga) oder „Anatomie der Leere“ (Diégane) heißt. Es ist immer ein Buch der Bücher, das wie eine Bibliothek alle Bücher der Welt enthält. Dabei ist klar: Dieser Roman hat nicht nur die französische Tradition und Literaturgeschichte aufgesogen und kunstvoll „plagiiert“, er atmet auch die senegalesische, westafrikanische mündliche Erzähltradition der sogenannten „Griot“-Erzähler*innen. Da wird etwa von Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten in Elimanes Vergangenheit im Senegal berichtet oder von einer mysteriösen Suizidserie unter Elimanes Kritiker*innen, die scheinbar nur mit der („schwarzen“) Magie des Buches zu erklären ist.

Lohnt sich das?

Ja! Sarrs „Die Geheimste Erinnerung der Menschen“ ist eine postkoloniale literarische Rache, so bitter wie präzise ausgeführt. Darüber hinaus beschwört der Roman die Geister des (westafrikanischen) Erzählens. Indem sich Sarr elegant in die französische Literaturgeschichte einschreibt, kehrt er den kolonisatorischen Versuch um, die eigene Geschichte auszulöschen.

Schade:

Mitunter geht Sarr allzu unbarmherzig mit seinen Frauenfiguren um, er lässt sie heftiger leiden als die männlichen Protagonisten und interessiert sich mehr für ihre körperlichen Eigenschaften. Zugleich denken einige dieser Protagonistinnen aber laut und klar, sie weisen Diégane schlagfertig und belesen in die Schranken und finden oft die besseren Worte als er.

Stärkster Satz:

Stammt von Diéganes Schriftstellerfreund Musimbwa, der in einem Brief aus Zaire endlich offenlegt, was es mit den tauben Protagonisten seiner Romane auf sich hat – es ist sein eigenes Trauma: „Ich glaube nicht, dass man die Gespenster vertreiben muss, ich glaube, man muss sich zu ihnen ans Feuer setzen und dort, vom Angstschweiß durchnässt, zähneklappernd, die Hosen voll, seinen Platz und seine Rolle einnehmen, die ganze Rolle aus der Vergangenheit.“

Titlebild: Andrea Mantovani/The New Y​ork Times/Redux/laif

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