Moslem werden, vegan leben, buddhistische Meditation für sich entdecken. Wenn Menschen ihr Leben radikal verändern, zum Beispiel einen neuen Glauben annehmen, dann berichten sie gerne davon. Das war schon im Mittelalter so, und so ist es bis heute – nur eben auf YouTube statt in Texten. Erstaunlicherweise sind die Erzählmuster dabei in etwa die gleichen geblieben, sagt die Germanistin Martina Wagner-Egelhaaf aus Münster, die sich mit Konvertiten und ihren Autobiografien befasst. In Zeiten, da immer mehr Leute aus dem Freundeskreis überzeugte Veganer werden und Jugendliche manchmal sehr plötzlich zum Islam konvertieren, fanden wir, ist es Zeit für ein Interview mit einer Konversionsexpertin aus der Literaturwissenschaft.

gross.gif

Männer meditieren in der Natur (James Kerr /Scorpion Dagger)

Ich kann’s noch gar nicht glauben: Manchmal scheint es, als sei das Bedürfnis, den neuen Glauben ganz schnell allen zu zeigen, größer als der Glaube selber

(James Kerr /Scorpion Dagger)

Fluter: Wenn ich mich dafür entscheide, ab morgen nie wieder Fleisch zu essen, bin ich dann konvertiert?

Martina Wagner-Egelhaaf: Das könnte man, muss man aber nicht so ausdrücken. Wir sind es gewöhnt, „Konversion“ als religiöse Konversion zu verstehen. Zunächst bedeutet „Konversion“ aber ganz einfach nur „Umkehr“ oder „Wende“. Und in diesem weiten Sinne kann man das Bekenntnis zum Vegetarismus als Konversion verstehen. Sie haben aufgrund bestimmter „Glaubensprinzipien“ – tierethischer oder gesundheitsbezogener Art – Ihr Leben ziemlich radikal verändert.

Warum bringen wir Konversion schnell mit Religion in Verbindung?

Religion steht in unserem Wertesystem sehr weit oben. Normalerweise wird man in eine Religion hineingeboren, in dieser sozialisiert, und wenn man dann die Religion ändert, ist das schon ein aufsehenerregender Akt – mehr als der Entschluss, Vegetarierin zu werden. Historisch gesehen bezog sich Konversion übrigens zunächst nicht auf die Religion. In der Antike verstand man unter einer „conversio“ die Bekehrung zur Philosophie.

"Da spielen auch andere Dinge eine Rolle: Abenteuerlust, männliches Imponiergehabe."

Wie viele Formen von Konversion gibt es? Religiöse und nichtreligiöse?

Es gibt sehr viele verschiedene Formen. Man kann freiwillig konvertieren oder dazu gezwungen werden. Wenn wir das Beispiel eines Paares nehmen – die Frau ist Katholikin, der Mann ist evangelisch oder konfessionslos. Der Mann kann den Glauben seiner Frau aus religiösen oder aus pragmatischen Motiven annehmen. In letzterem Fall hätte die Religion im Grunde keinen hohen Stellenwert – es ist also nicht immer leicht, zwischen religiösen und nichtreligiösen Konversionen zu differenzieren, und deshalb sollten wir sie nicht unbedingt gegeneinander ausspielen. Die Konversionsforschung unterscheidet zwischen drei Konversionstypen. Erstens die „Blitzkonversion“, bei der sich mit einem Mal, ganz plötzlich, das ganze Leben ändert, ohne dass dem ein Reflexionsprozess vorausgeht. Zweitens die Konversion, die ein längerer Entwicklungsprozess ist, der mit einer allmählichen Bewusstseinsveränderung einhergeht. Und der dritte Typus ist die Konversion, die eigentlich nie abgeschlossen ist.

Kann man sagen, dass es sich bei Jugendlichen, die zum Islam übertreten und sich dann radikalisieren, um Blitzkonvertiten handelt?

Das würde ich nur unter Vorbehalt sagen. Wir wissen oft nicht, was der Konversion vorausgeht. Ich würde davon sprechen, dass es eine Nähe zur Blitzkonversion hat, weil sie plötzlich als Anhänger des Islam auftreten. Wie religiös das allerdings begründet ist, ist nur schwer zu sagen. Da spielen oft auch andere Dinge eine Rolle, glaube ich: Abenteuerlust, männliches Imponiergehabe. Aus diesem Grund würde ich in solchen Fällen überhaupt nicht von Konversion sprechen, jedenfalls nicht, wenn man damit eine religiöse Wende meint.

"Häufig ähneln sich die Konversionsberichte sehr stark."

Warum konvertieren Menschen denn überhaupt?

Das kann ich als Literaturwissenschaftlerin nicht solide beantworten. Aber ich denke, der Faktor „Unzufriedenheit“ spielt sicherlich eine Rolle. Wenn man sich mit seinem eigenen Leben nicht wirklich identifizieren kann und man den Gedanken hat „Da muss doch noch was anderes sein“, suchen sich die Menschen eine neue Orientierung, eine neue Gemeinschaft. Gerade bei den jungen Männern, die sich dem Islamischen Staat anschließen, handelt es sich oft um Menschen, die es eben nicht geschafft haben, irgendwo anzukommen. Und dann suchen sie sich natürlich andere Wege.

Sie untersuchen Texte aus verschiedenen Epochen, vom Mittelalter bis heute. Haben sich im Laufe der Jahrhunderte die Vorstellungen und Erzählmuster von Konversion geändert?

Man muss bedenken, dass die meisten Autobiografien retrospektiv geschrieben werden und man dementsprechend nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass da genau beschrieben wird, was tatsächlich der Fall war. Die Grundmuster sind jedenfalls erstaunlich konstant. Man findet die drei Konversionstypen nicht nur in älteren Texten, sondern auch in modernen. Häufig ähneln sich die Konversionsberichte sehr stark. Sie orientieren sich an überindividuellen Schemata. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Betroffenen einen kritischen Blick auf die Gesellschaft beziehungsweise ihre Umwelt haben und sie zum Beispiel deren Scheinheiligkeit anprangern. Auch das Motiv der Suche ist Teil dieser Erzählmuster – alles Narrative, die sich über die Jahrhunderte hinwegziehen.

"Die wenigsten Menschen konvertieren still und heimlich."

Und bis heute wirken …

Ja. Mit diesen Narrativen betrachten wir die Welt, und sie helfen uns, uns selbst und die Welt zu verstehen. Daher sind sie relativ stabil – auch weil sie eine Schutzfunktion haben. Sie geben uns ein Ziel, auf das wir hinarbeiten können. Nehmen wir mal das Narrativ „vom Tellerwäscher zum Millionär“. In diesem Narrativ steckt sehr viel, zum Beispiel die Behauptung „Jeder kann es zum Millionär bringen“ – was natürlich gar nicht unbedingt der Fall ist. Dennoch orientieren wir uns daran: Zum Millionär hat es jemand vielleicht nicht gebracht, aber er hat es mit Fleiß und dank glücklicher Umstände geschafft, seinen einfachen Verhältnissen zu entkommen. Er nimmt also das Narrativ vom Tellerwäscher als Vorlage und wandelt es ab.

Welche Quellen müssten wir uns heute anschauen, um zu verstehen, warum jemand konvertiert ist? Posts bei Facebook?

Posts bei Facebook würde man sich auf jeden Fall anschauen, genauso wie YouTube-Videos. Aber das sollten natürlich nicht die einzigen Quellen sein. Man sollte versuchen, mit den Menschen selbst ins Gespräch zu kommen, zumal die meisten Konvertiten sehr gerne über ihre Konversion sprechen. Die wenigsten Menschen konvertieren still und heimlich für sich, sondern sie treten damit an die Öffentlichkeit und wollen, dass diese ihre Konversion wahrnimmt.

"Das ist auch eine Aufnahme in eine neue Gemeinschaft"

Wie erklären Sie sich diesen Drang, die eigene Konversion öffentlich zu machen?

Ich glaube, wir sind sehr abhängig von dem Bild unseres Selbst, das uns von anderen gespiegelt wird. Wir sind nicht die souveränen Subjekte, die genau wissen, was sie tun und was richtig ist – wir brauchen immer die Bestätigung von außen.

Was passiert eigentlich genau bei einer Konversion?

Das lässt sich nicht allgemein sagen, weil wir nicht in die Köpfe der Menschen gucken können. Das Einzige, was man sagen kann, ist, dass sich das Leben radikal verändert. Das gilt sowohl für die eigenen Gedanken und Meinungen als auch für die Lebenspraxis. Wenn ich mich zum Vegetarismus bekenne, fange ich eventuell an, in anderen Geschäften einzukaufen, treffe mich mit Gleichgesinnten. Letztlich ist jede Konversion auch eine Aufnahme in eine neue Gemeinschaft, und sehr häufig lockern sich dann alte Bindungen. 

Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf lehrt am Germanistischen Institut der Uni Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Gegenwartsliteratur und Autobiografien. Sie gehört zudem dem Forschungsverbund „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ der Uni Münster an und beschäftigt sich dort besonders mit dem Thema „Konversion“.

Ann-Kristin Schöne ist Volontärin bei der Bundeszentrale für politische Bildung.