Es muss jemand da gewesen sein am Grab von S. A. Albulow. Ein kleines Kuscheltier, ein Hund mit grüner Stoffschleife, liegt auf dem von Gras und Pflanzen zugewucherten Grab des Jungen. Nur ein halbes Jahr war er alt, als er am 13. April 1966 starb. „Spi spokoino dorogi sykotschek“ steht auf dem Grabstein in kyrillischer Schrift, „Schlafe gut, geliebtes Söhnchen“. Die Farben des Plüschtiers sind blass geworden. Ein Jahr, vielleicht auch zwei Jahre dürfte es schon hier liegen. Aber es war jemand da.

Wie auch schräg gegenüber, am Grab von G. Romanow, der am 14. Juni 1963 anderthalbjährig verstarb. „Pamnit budem wsegda. Papa, Mama, Serjosha“ verspricht die russische Grabinschrift, „Wir werden Dich nie vergessen“. Wer auch immer von den dreien da war, ob Papa, Mama oder der Bruder Serjoscha – sie haben ihr Wort gehalten: Auf dem Rand der im Boden liegenden Grabplatte steht ein kleines gelbes Spielzeugauto aus Metall.

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Geld und Gedenken: Um den Garnisonfriedhof gibt es Streit, weil auf dem Nordflügel Gräber eingeebnet werden sollen (Foto: Arno Burgi/picture-alliance)

Geld und Gedenken: Um den Garnisonfriedhof gibt es Streit, weil auf dem Nordflügel Gräber eingeebnet werden sollen

(Foto: Arno Burgi/picture-alliance)

Die Gräber der beiden Jungen liegen im sogenannten Kinderhain, der sich im Nordflügel des sowjetischen Garnisonfriedhofes in Dresden befindet. Seit Anfang der 1960er-Jahre sind in dem Hain insgesamt 65 Jungen und Mädchen aus sowjetischen Offiziersfamilien, die in Dresden stationiert waren, beigesetzt worden. Das jüngste Grab ist das von Jana Borisowa, die am 14. September 1987, gerade einmal zwei Monate alt, verstarb. Auch dieses Grab hatte offenbar einen Besucher. Ein buntes Osterei aus Plastik liegt im Gras neben der Grabplatte.

Im Nordflügel des Dresdner Garnisonfriedhofs liegen insgesamt 678 Gräber von sowjetischen Soldaten und Zivilisten, die hier zwischen dem Sommer 1952 und September 1987 beigesetzt wurden. Dieser Bereich ist durch eine gewaltige Hainbuchenhecke vom übrigen Teil des bereits 1946 angelegten Friedhofs getrennt.

Verwilderter Friedhof: Wucherndes Gras auf den Wegen, Moos auf Grabplatten

Der Nordflügel bildet das krasse Gegenstück zu der akkurat gepflegten Kriegsgräberstätte jenseits der Hecke, auf der 1.590 Offiziere und Soldaten liegen, die gegen Kriegsende und in den ersten Jahren danach verstorben sind. Während die Stadt Dresden dort regelmäßig von einem Gartenbaubetrieb den Rasen mähen und die Thujahecken stutzen lässt, wuchert im Nordflügel das Gras die Wege zu. Auf den in den Boden eingelassenen Grabplatten aus rotem Quarzporphyr wächst das Moos, von den großen Bäumen ringsum brechen immer wieder tote Äste ab und bleiben auf dem Boden liegen.

„Ich kann mich noch genau an meinen ersten Besuch auf diesem Teil des Friedhofs erinnern“, erzählt die Dresdner Journalistin Jane Jannke. Im Frühjahr 2010 sei das gewesen. „Ich stieß eher zufällig darauf, dass sich das Friedhofsgelände hinter der riesigen Hecke am nördlichen Ende fortsetzt“, sagt sie. „Dort streifte ich durch das hohe Gras, entdeckte die zugewachsenen Grabsteine am Boden und sah plötzlich mitten auf einer Wiese einen orangefarbenen Blumenstrauß stehen.“

Der Strauß stand auf einer Grabplatte, die jemand mühsam von Moos und Pflanzengeflecht befreit hatte. „Das hat mich sehr berührt, denn mir wurde plötzlich bewusst, da kommen Menschen den weiten Weg aus Russland, um ihre Angehörigen zu besuchen, die sie oder ihre Eltern hier vor Jahrzehnten begraben und zurückgelassen haben.“

Das Land Sachsen will aus Grabstellen eine parkähnliche Wiese machen

Seit nunmehr fünf Jahren engagiert sich Jane Jannke zusammen mit anderen Dresdner Bürgern für den Erhalt des gesamten Garnisonfriedhofs. Denn insbesondere dem Nordflügel droht ein einschneidender Umbau, sollten die Pläne des Freistaats Sachsen Realität werden. So will der für diesen Friedhofsteil zuständige Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement (SIB) den Bereich in eine parkähnliche Wiese umgestalten, auf der keine Bäume und Sträucher und auch keine Grabstellen mehr zu finden sein werden. Dafür sollen am Rande der Wiese Stelen mit den Namen der hier Bestatteten errichtet werden.

Begründet wird dieses Konzept vom Staatsbetrieb vor allem mit dem schlechten baulichen Zustand des Nordflügels. „Die Umgestaltung ist erforderlich, weil der Friedhofsteil einen nicht tragbaren Zustand aufweist, insbesondere befinden sich Treppen und Wege nicht in verkehrssicherem Zustand“, erklärt Andrea Krieger, Sprecherin des SIB. Ein weiteres Argument waren in der Vergangenheit auch die Pflegekosten für den Nordflügel, die sich durch den Umbau von jährlich 8.000 Euro um die Hälfte senken lassen könnten.  Die Kosten für den Umbau werden gleichzeitig mit über einer Viertelmillion Euro veranschlagt.

Juristisch ist das SIB-Konzept nicht angreifbar. Denn die Ruhestätten auf dem Nordflügel des Friedhofs fallen nicht unter das deutsche Gräbergesetz. Dieses Gesetz schreibt vor, dass Gräber von Personen, die bis zum 31. März 1952 während ihres militärischen oder militärähnlichen Dienstes gefallen, tödlich verunglückt oder an den Folgen von erlittenen Gesundheitsschädigungen gestorben sind, auf Dauer bestehen bleiben und auf Staatskosten gepflegt werden müssen. Seit 1992 besteht auch ein bilaterales Abkommen zwischen der Bundesrepublik und der Russischen Föderation über Kriegsgräberfürsorge.

Darin verpflichtet sich die Bundesrepublik, den Bestand der Kriegsgräber dauerhaft zu gewährleisten, sie zu unterhalten und zu reparieren. Dies sieht zudem der Vertrag über gute Nachbarschaft von 1990 vor, der auch den Erhalt der Ehrenmäler für die sowjetischen Kriegsopfer mit einschließt. Die sowjetischen Ehrenmale waren 1990 ein wichtiger Verhandlungspunkt im Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Wiedervereinigung gewesen.

Deutsche Gesetze treffen auf russische Bestattungskultur

Doch das spielt für den Platz hinter der großen Hainbuchenhecke des Garnisonfriedhofs keine Rolle. Denn hier wurden erst ab Sommer 1952 Bestattungen durchgeführt. Damit fallen diese Gräber unter das normale Friedhofsrecht, das eine maximale Liegedauer von 25 Jahren vorsieht. Für das letzte Grab, das von Jana Borisowa, die nur zwei Monate alt wurde, war diese Frist im Oktober 2012 abgelaufen.

„Die Frage ist doch aber, ob wir unsere deutschen Gesetze, die überhaupt nicht zur russischen Bestattungskultur passen, auf diesem Friedhof anwenden dürfen“, sagt Holger Hase. Hase, Major der Bundeswehr und studierter Historiker, ist Vorsitzender des 2014 gegründeten Vereins „Denk Mal Fort e.V.“, der sich der Bewahrung des Friedhofs und einer kritischen Aufarbeitung seiner Geschichte verschrieben hat. „In Russland und den anderen früheren Sowjetrepubliken gibt es keine begrenzte Liegefrist für Grabstätten, dort genießen die Toten anders als hierzulande ein ewiges Ruherecht“, sagt er. „Und hinzu kommt, dass niemand die Betroffenen überhaupt gefragt hat, ob sie einverstanden sind mit der Einebnung der Gräber ihrer Angehörigen.“

Der 38-jährige Familienvater, der aus Bautzen stammt und mit einer Russin verheiratet ist, setzt sich wie Jane Jannke seit 2010 für den Erhalt des Nordflügels in seiner ursprünglichen Form ein. Er tue das als Privatperson, wie er betont. Hase unterrichtet Militärgeschichte an der Offiziersschule des Heeres, die schräg gegenüber vom Garnisonfriedhof an der Dresdner Marienallee liegt. Dass er das mit der Privatperson so herausstelle, solle aber nicht heißen, seine Vorgesetzten würden sein Engagement missbilligen. „Im Gegenteil, ich erlebe eine große Unterstützung an meiner Schule, sowohl von den Kollegen als auch von den Offiziersschülern“, sagt er.

Was auch daran liegt, dass es Hase und Jannke und ihren Mitstreitern im Verein Denk Mal Fort nicht nur um eine bloße Bewahrung der Gräberstätte geht. „Wir möchten den Friedhof als einen wichtigen Gedenkort in der Stadt etablieren“, sagt der Bundeswehroffizier. „Das heißt aber auch, dass wir die Geschichte dieses Ortes und die Schicksale der dort Beigesetzten ergründen. Denn insbesondere viele Soldaten sind auch an den geradezu unmenschlichen Bedingungen in den Kasernen zugrunde gegangen.“

Der Bürgerverein will, dass aus dem Friedhof ein historischer Lernort wird

Jane Jannke spricht von Schätzungen, wonach in der Zeit der Besatzung jedes Jahr zwischen 1.000 und 4.000 sowjetische Soldaten auf dem Gebiet der DDR ums Leben kamen. „Viele Soldaten sollen durch Unfälle und Krankheiten gestorben sein“, sagt sie. Russland tue das bis heute zwar als böswillige Propaganda ab. Aber es gebe Zeitzeugenberichte, wonach die Rekruten oft einem harten Drill ausgesetzt gewesen seien sowie unter mangelnder Ernährung und den schlechten hygienischen Zuständen in den Unterkünften gelitten hätten.

Nachdem der Konflikt um die Umgestaltungspläne des Freistaats für den Friedhof immer größere Kreise gezogen hatte, initiierte die Stadt Dresden vor einem Jahr schließlich einen Runden Tisch, an dem Vertreter von Landes- und Stadtverwaltung und Kritiker eine gemeinsame Lösung für den Garnisonfriedhof finden sollen. Viermal tagte der Runde Tisch, dann war im Juli erst einmal Schluss. Seitdem wird offenbar hinter den Kulissen heftig über die künftige Trägerschaft gerungen.

Der Staatsbetrieb SIB und damit der Freistaat würden den Friedhof gern wieder an die Stadt Dresden zurückgeben, von der das Land ihn 1996 übernommen hatte. Dresden ziert sich noch, weil man die Kosten fürchtet, aber die Kritiker der Umbaupläne wittern Morgenluft. „Die Rückkehr des Garnisonfriedhofs in die Zuständigkeit der Stadt wäre für uns die ideale Lösung“, sagt Holger Hase. „Dann wären wir unserem Ziel, den gesamten Garnisonfriedhof als ‚historischen Lernort’ in der Öffentlichkeit zu verankern, einen großen Schritt näher gekommen.“