Ein blauschwarzer Himmelsfalter fliegt durch das Mädchenklo der Blackwell Academy, wo sich Maxine Caulfield gerade die Hände wäscht. Sie zückt ihre Polaroidkamera und folgt dem Schmetterling in eine Ecke hinter den Toiletten. Plötzlich betreten zwei ihrer Mitschüler den Raum, und es geht Schlag auf Schlag. Max muss mit ansehen, wie ihre Freundin Cloe nach einem Streit erschossen wird. Doch im Angesicht von Cloes Tod merkt Max auf einmal, dass eine besondere Gabe in ihr schlummert: Sie kann die Zeit zurückdrehen.
Max ist die Hauptfigur des Adventures „Life Is Strange“. Die Achtzehnjährige ist introvertiert und unsicher, in ihrem Tagebuch schreibt sie: „Ich habe die Welt immer durch meine eigene Linse gesehen, das ist meine Art, an der Welt aus sicherer Distanz teilzuhaben.“ Sie ist in ihren Heimatort Arcadia Bay in Oregon zurückgekehrt, um Fotografie zu studieren. Von früher kennt Max hier nur noch ihre ehemalige Freundin Cloe. Doch die ist damit beschäftigt, die verschwundene Rachel zu suchen – bis die beiden sich auf der Mädchentoilette wiedertreffen und Max ihr das Leben durch einen Zeitsprung rettet.
In der ersten von insgesamt fünf geplanten Episoden erzählt das Spiel, wie es sich anfühlt, im Nordwesten der USA erwachsen zu werden. Der Spieler kann Max in der Third-Person-Perspektive relativ frei über ihren Uni-Campus bewegen. Zwischendrin interagiert man mit Mitschülern, Lehrern und anderen Erwachsenen und löst kleinere Rätsel, beispielsweise muss man das richtige Werkzeug finden, um die zwischenzeitlich zerbrochene Polaroidkamera zu reparieren.
Wofür man diese Dinge tut, bleibt jedoch bis zum Ende der ersten Episode unklar. Zwar gibt es immer wieder Andeutungen, dass Arcadia Bay ein dunkles Geheimnis birgt – so hat Max mehrmals Albträume, in denen ein Tornado die Stadt bedroht, und überall liegen die Flugblätter mit dem Foto der vermissten Rachel –, doch die Zusammenhänge bleiben vorerst im Dunkeln. Vielmehr geht es in der rund dreistündigen Auftaktepisode darum, die Möglichkeiten der Spielmechanik zu verstehen.
Dass in den ersten Schlüsselszenen von „Life Is Strange“ ein Falter und ein Tornado auftauchen, ist jedenfalls kein Zufall. Das französische Entwicklerteam Dontnod Entertainment ist schon seit längerem vom „Schmetterlingseffekt“ fasziniert. Der Begriff aus der Chaostheorie beschreibt die Idee, dass selbst kleinste Handlungen große Auswirkungen haben können – wie der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Tornado auslösen kann. Bereits in Dontnods Debüt „Remember Me“ aus dem Jahr 2013 hat man die Möglichkeit, die Spielhandlung komplett auf den Kopf zu stellen, indem man mit den Erinnerungen anderer Menschen herumspielt.
Bei „Life Is Strange“ ist das Umkehren der Zeit und dessen fragiler Einfluss auf den Spielverlauf die Kernidee – und das passenderweise in einem Lebensabschnitt, in dem es besonders darauf ankommt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Mit einem Rechtsklick kann Max beliebig oft in der Zeit zurückreisen – aber nur bis zum letzten Schlüsselereignis von „Life Is Strange“.
Max’ Wissen und die gesammelten Gegenstände, alles fein säuberlich in ihrem Tagebuch dokumentiert, bleiben davon unverändert. Dialogoptionen und Handlungen können dafür in allen möglichen Varianten durchexerziert werden. Denn: Jede Entscheidung hat Einfluss auf den zukünftigen Spielverlauf. Welche Option am besten für das Spiel ist, kann man jedoch nur schwer abschätzen: So beobachtet Max beispielsweise, wie Cloes Stiefvater eine Mitschülerin bedrängt. Der Spieler hat die Wahl: einschreiten oder die Tat fotografieren. Was richtig war, bleibt erst mal offen.
Die wahre Stärke von „Life Is Strange“ liegt jedoch nicht in der Spielmechanik, sondern in seiner trotz der etwas angestaubt wirkenden Grafik unglaublich dichten Atmosphäre. Wie ein verträumtes Indie-Drama entfaltet das Spiel eine nachdenkliche Melancholie, untermalt von weltschmerzheulenden Akustikgitarren. „Life Is Strange“ vermittelt punktgenau das Gefühl, alle Möglichkeiten im Leben vor sich zu haben und doch so unsicher zu sein. Max’ innere Zerrissenheit zwischen Einsamkeit und dem Wunsch nach Anerkennung als Fotografin ist nachempfindbar. Behutsam erzählt das Spiel von der Suche nach dem eigenen Ich. Nicht umsonst teilt sich die Heldin den Nachnamen mit Holden Caulfield – dem Helden aus J. D. Salingers Coming-of-Age-Klassiker „Der Fänger im Roggen“.
Beinahe wäre „Life Is Strange“ jedoch gar nicht erschienen. Die meisten Publisher wollten das Spiel nur mit einer männlichen Hauptfigur herausbringen. Erst die japanische Firma Square Enix war bereit, Max’ Geschichte zu erzählen, die ohne die sonst bei Videospielen so typische Sexualisierung auskommt. „Uns ging es dabei nicht um einen gewollten Tabubruch“, sagt Creative Director Jean-Maxime Moris. Ein anderer Entwickler ergänzt: „Es hat sich einfach richtig angefühlt, diese Story mit einem weiblichen Teenager zu erzählen.“
Robert Iwanetz, 28, lebt und arbeitet als freier Journalist in Frankfurt (Oder). Er hält „Monkey Island 3“ nach wie vor für das beste Adventure aller Zeiten.