Schulbücher seien wie „Massenerziehungswaffen“, sagte mal ein Historiker. Sie könnten zu Hass anstacheln – oder Verständigung lehren. Wie unterschiedlich Schulbücher Fakten und Zusammenhänge darstellen können, sieht man vor allem, wenn es um Konflikte geht: Da hat jede Partei schnell ihre eigene Wahrheit, die in Schulen vermittelt werden soll. Wir haben fünf Beispiele umstrittenen Wissens zusammengestellt.
Bosnien und Herzegowina: Kein Wort über Srebrenica
50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geschah in Europa wieder ein Völkermord. Im Juli 1995 ermordeten binnen weniger Tage bosnisch-serbische Truppen mehr als 8.000 Bosniaken in Srebrenica. Der Name der Stadt gilt seither als Mahnmal des Krieges im ehemaligen Jugoslawien.
Doch in Bosnien und Herzegowina, wo die Tat geschah, kommt das Wort Srebrenica in vielen Lehrbüchern nicht vor. Schülerinnen und Schüler lernen dort meist getrennt nach ethnischer Zugehörigkeit: Kroaten haben kroatische Geschichtsbücher, Serben nutzen serbische, und auch die Bosniaken haben ihre eigenen Bücher. Selbst in „gemischten“ Schulen werden Jugendliche häufig voneinander getrennt durch Zäune oder zeitlich getakteten Unterricht. Diese Trennung, dieses Nebeneinander statt Miteinander zeigt sich auch in den Geschichtsbüchern der achten und neunten Klasse aus den Jahren 2009/2010, wenn es um die jüngste Geschichte geht.
Nur im Lehrbuch der Bosniaken – der Gruppe der Opfer – nimmt der Völkermord größeren Raum ein. Im serbischen Buch ist von Srebrenica nirgends die Rede, dabei wurde die Tat von bosnischen Serben begangen. Stattdessen werden immer wieder die eigenen Opfer betont, auch aus anderen Kriegen. Von Tätern aus den eigenen Reihen ist kaum je die Rede. Als gäbe es einen Krieg, als gäbe es einen Völkermord ohne diejenigen, die töten.
Wie war das nochmal genau? Hier liest du mehr über den Völkermord in Srebrenica.
DDR und BRD: Acht Seiten vs. ein Absatz über den Mauerbau
Im Jahr 1989 erschien das DDR-Schulbuch „Geschichte für die 10. Klasse“. Wer als Schüler durch die Seiten blätterte, dem wurde klar: Es herrscht Krieg. Zumindest ideologischer. Auf vier Doppelseiten wird die Geschichte des Mauerbaus 1961 ausgewalzt. Die Bundesrepublik habe vor dem Bau der Mauer „die Eroberung der DDR“ vorbereitet, heißt es darin martialisch. Doch dank eines „wohldurchdachten Schlages gegen den Feind“ wurde der „Menschenhandel“ unterbrochen – gemeint war die Abwanderung Ostdeutscher in den Westen.
Die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ sicherten schließlich in den Morgenstunden des 13. August die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Aufgabe an die Schülerinnen und Schüler: „Legen Sie dar, warum der 13. August 1961 den Frieden in Europa rettete!“
Dabei kostete der Bau der Mauer Menschenleben. Im West-Geschichtsbuch „Geschichte und Geschehen“ von 1988 wird deutlich, was das Ost-Geschichtsbuch verschweigt: „Die Grenztruppen bekamen Anweisung, auf Flüchtlinge gezielt zu schießen.“ Nur einen Absatz nimmt der Mauerbau im West-Geschichtsbuch ein. Wenige Monate nach Veröffentlichung der beiden Bücher, am 9. November 1989, öffneten sich dann in Berlin die Tore zum Westen. Die Mauer war Geschichte.
Was damals geschehen ist, kannst du hier nachlesen.
Special: Wissen
Palästinensische Gebiete: Opferzahlen von Aufständen addieren
Wer als Kind in Israel aufwächst, für den ist der Anblick von Soldaten und Polizisten, ja selbst das Geräusch von Bomben und Raketen leider oft vertraut. In Israel und in den palästinensischen Gebieten (Westjordanland, Gazastreifen und Ost-Jerusalem) wird der Konflikt von den Schulbehörden in den Klassenräumen nachgezeichnet. Beide Seiten verwenden unterschiedliche Lehrbücher und beschuldigen sich gegenseitig, deren Inhalte zugunsten der „eigenen“ bzw. politisch dominanten Perspektive zu beeinflussen. In palästinensischen Mathe-Büchern der Klassen 3 und 4 lernen Kinder beispielsweise rechnen, indem sie Opferzahlen von Kriegen und Aufständen addieren. Links neben der Aufgabe für Viertklässler: das Foto einer Beerdigung.
Wie in den palästinensischen Gebieten üblich, werden palästinensische Opfer des Konflikts als „Märtyrer“ bezeichnet. Die neun- bis zehnjährigen Kinder lernen so nicht nur Mathematik, sondern auch etwas über die palästinensischen Aufstände („Intifadas“) in den Jahren 1988 bis 1993 und 2000 bis 2005.
In anderen Büchern aus den palästinensischen Gebieten finden sich ähnliche Beispiele: Wie das vegetative Nervensystem unter Stress funktioniert, müssen Schülerinnen der Klasse 11 an einem Bild von Menschen zeigen, die gerade beschossen werden. Und die Gesetze der Physik lernen Siebtklässler unter anderem anhand von Steinschleudern: „Zweites Newtonsches Gesetz: Während der Ersten Intifada nutzten palästinensische Jugendliche Steinschleudern, um sich den Soldaten der zionistischen Besatzung entgegenzustellen und sich gegen ihre tückischen Kugeln zu verteidigen. In welchem Verhältnis steht die Dehnung des Gummibandes zu seiner Reißfestigkeit?“
Israel: Das war keine Katastrophe
Für die einen eine Katastrophe, für die anderen ein Triumph: Die Staatsgründung Israels im Mai 1948 wird bis heute als Gedenktag begangen – aber auf unterschiedliche Weise. Die meisten jüdischen Israelis feiern den Unabhängigkeitstag. Viele arabische Israelis begehen diesen Tag aber als Tag der „Nakba“, dem arabischen Wort für Katastrophe. Denn während des Unabhängigkeitskrieges zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten in den Jahren 1948/1949 verloren etwa 700.000 Palästinenser ihre Heimat, weil sie wegzogen, flohen oder vertrieben wurden.
Der Likud-Partei des heutigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ist dieses Gedenken an die „Nakba“ zuwider. Als Erstes werde man das Wort „Nakba“ streichen, kündigte Netanjahu noch als Oppositionsführer an. Und tatsächlich: Kaum kam Netanjahu und mit ihm ein neuer Schulminister im Jahr 2009 an die Regierung, ordnete das Ministerium die Streichung des Wortes „Nakba“ in einem arabischen Schulbuch an. Es gebe schließlich keinen Grund, so der Schulminister, von der Gründung Israels als einer Katastrophe zu sprechen. Ganz konsequent war das Schulministerium allerdings nicht. Bis heute werden im Unterricht Bücher verwendet, in denen das Wort „Nakba“ steht. Auch in hebräischen Büchern ist von der „Katastrophe“ die Rede.
Hier findest du mehr Informationen über den Nahost-Konflikt.
Japan: Welches Massaker?
Der Zweite Weltkrieg endete nicht am 8. Mai 1945. Im Pazifik kämpften Soldaten noch bis zum September, viele Menschen starben, selbst um kleinste Flecken Land wurde erbittert gerungen. In den Jahren zuvor hatte das japanische Kaiserreich mehrere Länder in Süd- und Ostasien angegriffen. Vor allem in China litten viele Menschen unter der oft grausamen militärischen Besatzung. Im Winter 1937 verübten japanische Soldaten ein Massaker in der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanking.
Im Jahr 2001 wurde in Japan ein Schulbuch zugelassen, das nicht nur in China für große Empörung sorgte. Das Massaker von Nanking war den Autoren des Buches nur eine Randnotiz wert. Übersetzt lautet sie: „Viele chinesische Soldaten und Zivilisten wurden damals von japanischen Soldaten getötet oder verwundet (Vorfall von Nanking). Schriftliche Quellen ließen Zweifel an der tatsächlichen Zahl der Opfer des Vorfalls aufkommen. Die Debatte darüber dauert bis heute an.“
Nicht erwähnt wird, dass Historiker von einem Massaker mit – je nach Schätzung – mehreren Zehntausend bis zu weit mehr als 200.000 Toten sprechen, viele von ihnen Zivilisten. Die Leichenberge, die die Straßen Nankings säumten, dass Japans Soldaten einige Opfer mit Schwertern enthaupteten und Frauen vergewaltigten, findet keinen Platz. Zumindest in den Schulen hatte das Buch keinen Erfolg – nur eine winzige Minderheit der japanischen Kinder lernte Geschichte mit diesem Werk. Doch auf dem freien Markt wurde das Buch hunderttausendfach verkauft – in immer wieder neuen Auflagen.
Der Zweite Weltkrieg endete nicht am 8. Mai 1945? Hier liest du über die letzten Kriegsmonate in Japan.
Wir danken dem Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig sowie dem Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education in Ramat Gan (Israel) für die Unterstützung bei der Recherche.
Collagen: Bureau Chateau / Jannis Pätzold