„Fast jeden Tag kommen die Polizisten“, sagt Anca auf Rumänisch und knotet ihre langen, dunklen Haare zu einem Zopf zusammen. „Die wollen uns nicht arbeiten lassen.“ Aber Anca arbeitet. Sie wartet die Grünphase der Autos an der Kreuzung ab. In der einen Hand hält sie einen Haushaltswischer, den es für vier Euro im Baumarkt gibt, in der anderen eine Plastikflasche mit Spülwasser. Unruhig wippt sie von einem Fuß auf den anderen. Als die Ampel auf Rot springt, läuft sie los: winkt dem ersten Autofahrer fröhlich mit dem Wischer zu, malt auf das zweite Autofenster mit einer geübten Bewegung ein Herz aus Spülwasser. Mit noch einem Strich wird ein Apfel daraus. Der Fahrer winkt zwar ab, aber Anca besprüht die Windschutzscheibe schon mit Spüli und verteilt den Schaum auf dem Fenster. Drei, vier kräftige Züge mit der Rückseite des Wischers, und die Scheibe ist wieder trocken. „Bei Sonne gibt es mehr Geld“, sagt Anca.
Die Wolken am Himmel sind grau. Ancas Pulli, den sie um die Hüfte und über den langen Rock gebunden hat, ist vom Spülwasser schon ganz nass. In der Stunde verdient sie knapp fünf Euro. Als ihr ein Polo-Fahrer eine Zwei-Euro- Münze durch den Fensterschlitz zusteckt, grinst sie über das ganze Gesicht. Meistens bekommt sie aber nichts. Viele Autofahrer heben abwehrend die Hände, wenn sie das Mädchen sehen, andere hupen. Ein bärtiger Trucker kurbelt das Fenster herunter und schreit sie an: „Is doch schon sauber!“ Im Juli ist Anca mit ihren Eltern aus der rumänischen Hauptstadt Bukarest nach Berlin gekommen, im Winter wollen sie zurück. In Rumänien finden sie keine Arbeit, sagt Anca, hier arbeitet der Vater schwarz auf dem Bau, die Mutter als Putzhilfe. Anca ist fürs Autowaschen am Kottbusser Tor zuständig. Ob sie statt zu arbeiten nicht lieber in Rumänien in die Schule gehen möchte? „Nein, ich war ja schon vier Jahre in der Schule“, sagt sie. Außerdem mache ihr die Arbeit Spaß. Aber welche Pläne hat sie für die Zukunft? „Bald werde ich sicher heiraten, vielleicht irgendwann ein Haus bauen.“
Anca ist 14 Jahre alt. Sie ist zum ersten Mal in Berlin, ihre Eltern waren schon öfters hier. „Ich vermisse meine Geschwister in Rumänien sehr“, sagt sie. Als der Himmel ein wenig aufklart, wechselt das zierliche Mädchen auf eine andere Straße der Kreuzung. Die Grünphase dauert hier 20 Sekunden, die Rotphase eine Minute. Genug Zeit, zwei Windschutzscheiben zu putzen. Als sie auf einen Lkw zugeht und sich kurz umblickt, erschrickt Anca, rennt schnell durch die Autoreihen und wirft ihr Geld in einen Busch. Drei Männer laufen auf sie zu und umringen sie, drei Frauen kommen noch dazu. Eine von ihnen nimmt Anca die Spülmittelflasche aus der Hand und gießt sie aus, einer der Männer nimmt den Wischer an sich und durchsucht ihre Tasche. Er trägt eine Sonnenbrille, Baseballcap und schwarze Handschuhe mit extra Polsterung am Handrücken, wie sie sonst Türsteher tragen. Polizisten in Zivil. „Das Putzen der Scheiben ist eine Ordnungswidrigkeit“, erklärt einer der Beamten, während er die Münzen aus dem Gebüsch fischt. „Viele Autofahrer sind davon genervt.“ Das Geld und der Wischer werden von den Polizisten mitgenommen, Anca muss den Platz vorübergehend verlassen. „Was heißt Platzverweis auf Rumänisch?“, fragt der Polizist mit der Sonnenbrille. Die Aktion sei keine Besonderheit, meint er. „Manchmal putzen hier an der Kreuzung zehn Leute, die verstoßen damit aber gegen verschiedene Gesetze.“
Nach fünf Minuten ist Anca wieder zurück. Sie wirkt erleichtert, als sie im Gebüsch noch drei Euro und fünfzig Cent findet. Inzwischen sind einige Bekannte von Anca am Kottbusser Tor angekommen und diskutieren über den Polizeieinsatz. „Die stecken das Geld doch in die eigene Tasche“, sagt einer. Zumindest kann erst mal nicht weitergearbeitet werden, die Zivilpolizisten patroullieren in den nächsten Stunden rund um die anliegenden Häuserblocks. Anca holt sich aus ihrer Wohnung am Hermannplatz in Neukölln einen Ersatzwischer. „Es ist ein Spiel“, erklärt sie. „Mal wird man geschnappt, mal nicht.“ Als am späten Nachmittag die Rush-Hour beginnt und sich BMWs, Fords und Polos auf den Straßen vor den Dönerläden stauen, ist Anca wieder da – und hat Unterstützung mitgebracht. Vier Freundinnen widmen sich, allesamt mit Wischern und Spülmittel ausgerüstet, den endlosen Autoschlangen.
Würden sie nicht lieber eine legale Arbeit annehmen, vielleicht in einer Tankstelle? Ja, meinen die Mädchen, aber Hauptsache, sie können arbeiten und Geld verdienen, das sie zum Überleben brauchen. An eine Arbeitserlaubnis komme man schließlich nicht so einfach, schließlich brauche man dafür einen festen Wohnsitz. Wie am Fließband arbeitet die Truppe die Autoreihen ab. Die Mädchen singen während der Grünphasen und feixen mit den Fahrern großer Limousinen. Angst hätten sie bei ihrer Arbeit nicht, sagen sie. Aber ein dickes Fell ist nötig, wenn sie angehupt und beschimpft werden. Viele Fahrer im Feierabendverkehr sind gestresst, die Stimmung ist angespannt, unverzagt werden trotzdem Spülwasserherzen auf Windschutzscheiben gesprüht.
Unser Autor Arne, 22, hat auch schon ganz schön viele Jobs gemacht. Nach seinem Abitur war er im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres Betreuer in einem Roma- und Sinticamp in Rumänien, anschließend hat er bei Amnesty International und „Reporter ohne Grenzen“ mitgemacht. Nun will er Politik studieren.